„Niemand muss sich bei mir entschuldigen“

Neulich beim Nachtdienst. Eine anonyme, wahre Geschichte.

Die richtige Mobilisation will gelernt sein. (Foto: Privat)

Es ist 2:31 Uhr nachts. Ich habe alleine Nachtdienst für zwölf Personen und das Licht für Zimmernummer 111 leuchtet bereits zum achten Mal in wenigen Stunden auf. In dem Zimmer wohnt eine 92-Jährige mit Pflegestufe II, nach einer Oberschenkelfraktur.

Die Bewohnerin ist seit dem Sturz sehr eingeschränkt, kann das Bett nicht mehr alleine verlassen, ist teilweise inkontinent und will nur noch einmal am Tag mobilisiert werden. Sie sagt, sie habe Stuhlgang. Leider kommt dann nur Luft und sie hat so ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Zum achten Mal in dieser Nacht.

„Entschuldigen Sie die Umstände“, sagt die Dame zu mir. Ich dachte zuerst, dass ich vielleicht unfreundlich war und der Frau das Gefühl gegeben habe, dass sie nicht klingeln darf. „Ich will keine Umstände machen, Sie haben doch so viel zu tun“, sagt die 92-Jährige. Ja, denke ich. Das schon. Hier sind zwölf hilfebedürftige Menschen unter meiner Obhut, darunter Demente. Und vom Kaffeetrinken und Abendessen vorbereiten, über das Eingeben, Lagern und die Toilettengänge gehört auch der Inkontinenzwechsel zu meinen Aufgaben. Neun meiner Bewohner hier im Wohnbereich können ohne meine Hilfe nicht mehr aus dem Bett oder alleine auf die Toilette.

Ja, ich habe viel zu tun. Aber niemand muss sich bei mir entschuldigen. Für ein menschliches Bedürfnis! Und wenn es mal nicht klappt, dann ist es eben so. Ich schaue die Frau an und sage „Sie müssen sich nicht entschuldigen, denn meine Aufgabe ist es, Ihnen zu helfen“ auch wenn Sie zum zehnten Mal schellt. Sie schaut mich an, mit Tränen in den Augen und sagt „in die Pampers machen, ist für mich unwürdig“ – sie schämt sich dafür, dass sie meine Hilfe braucht.

Niemand muss sich bei mir dafür entschuldigen, dass er Stuhlgang hat. Oder eben nicht. Wer muss sich schämen? Die Frau? Ich oder die Gesellschaft?

Wir schauen weg! – Aber es gibt Zeiten im Leben, in denen jeder von uns einen Unbekannten in seinen Intimbereich lassen muss. Dazu gehört Vertrauen und ich möchte demjenigen ein Gefühl von Würde geben können. Ohne dass er sich für seine menschlichen Bedürfnisse entschuldigen muss. Im Grundgesetz steht „die Würde des Menschen ist unantastbar…“ aber gilt dieser Grundsatz auch, wenn wir den Nutzen dieser Gesellschaft aufgebraucht haben? Oder fallen wir dann nur noch zur Last?

Diese Begebenheit wurde recherchiert von Claus Fussek.