Kaum Hilfe für pflegende Angehörige

Häuslich Pflegende sind oft überlastet

Pflege Zuhause kostet Kraft (Foto: Fotolia)

Hohe Erwartungen und wenig Anerkennung – der Alltag vieler Menschen, die Zuhause pflegen. Ein Mann in Süddeutschland sah keinen Ausweg mehr. Er soll seine 88-jährige Mutter erstickt haben. Leider handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Zahlreiche Pflegende sind heillos überfordert.

Es war ein grausames Bild, was sich der Bekannten einer Esslinger Familie am vergangenen Samstag bot. Eigentlich hatte sie sich auf einen fröhlichen Plausch zur Mittagszeit gefreut, stattdessen fand sie ihre 88-jährige Freundin leblos vor. Daneben den 61-jährigen Sohn, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Laut aktuellen Ermittlungen soll er seine Mutter erstickt haben. Offenbar war der Mann mit der Pflege der Rentnerin überfordert.

Kein Einzelfall

Der mutmaßliche Täter konnte im Krankenhaus stabilisiert werden, ist aber bislang nicht vernehmungsfähig. Seine Situation, nämlich die eines pflegenden Angehörigen, ist zahlreichen Deutschen bekannt. Laut Statistischem Bundesamt wurden Ende 2013 rund 71 Prozent der Pflegebedürftigen zuhause gepflegt. Bei mehr als zwei Dritteln übernahmen Angehörige die komplette Pflege. Mit rund 29 Millionen Euro bezifferte Jürgen Graalmann, deren gesellschaftliche Wertschöpfung pro Jahr. Der AOK-Vorsitzende war einer der Auftaktredner des Deutschen Pflegetags 2015. Zuhause Pflegende waren auch dort zentrales Thema.

Zwischen Liebe und Hass

Dass viele von ihnen heillos überfordert sind, weiß Gabriele Tammen-Parr: „Die meisten wussten vorher nicht, was das im Einzelnen bedeutet.“ Als Leiterin der Berliner Beratungsstelle Pflege in Not des Diakonischen Werks Berlin Stadtmitte kennt sie viele Pflegende, die an Grenzen stoßen. So gebe es oft körperliche Probleme oder finanzielle Engpässe, am schlimmsten stehe es aber meist um die Psyche. Pflege Zuhause bedeute, sich körperlich und emotional sehr nahe zu kommen, erklärt die Expertin. Gewohnte Rollen verschieben sich. Der allwissende Vater wird plötzlich zum hilflosen Kind. Pflegende müssen ihren Alltag komplett umstellen, Hobbys und Gewohnheiten oft aufgeben. Zudem ist der jeweilige „Privatpfleger“ dauerhaft mit den Launen des anderen konfrontiert. Ein Zustand der schwerwiegt und Angehörige seelisch belastet. Und das oft über eine lange Zeit. Mehr als zehn Jahre werden Rentner im Durschnitt gepflegt. Ein Zeitfenster, das sich viele im Vorfeld kaum vorstellen können. Es gehe eigene Lebenszeit verloren und anfangs liebevolle Pflege werde im Laufe der Jahre nervenaufreibender. Tammen-Parr erläutert: „Die Pflegenden erleben einen Gefühlscocktail aus Zuneigung und Mitgefühl, aus pflegerischer und emotionaler Überforderung, aus Aggression und Schuld.“

Flächendeckendes Angebot gefordert

Trotzdem: Ohne pflegende Angehörige geht es nicht. Da sind sich Experten einig. AOK-Vorsitzender Jürgen Graalmann bringt es zum Kongressauftakt auf den Punkt: „Die soziale Pflegeversicherung steht und fällt mit dem Engagement der pflegenden Angehörigen.“ Bis jetzt sieht es mit flächendeckender Hilfe allerdings mau aus – trotz Pflegestärkungsgesetz. Um Familientragödien wie die Esslinger in Zukunft zu verhindert, muss etwas passieren. In diesem Punkt stimmen Politiker und gesellschaftliche Vertreter überein. Ungeklärt ist die Finanzierungsfrage und die, wer in der Praxis verantwortlich ist.

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