Selbsthilfegruppe – eine zusätzliche Belastung die unterstützt

Wenn Betroffene offen über ihre Belastungen reden können

In Selbsthilfegruppen finden pflegende Angehörige gegenseitige Unterstützung. (Foto: Fotolia)

„Sie gehen zugrunde“ – das hat Monika Schieber öfter von anderen Teilnehmern der Selbsthilfegruppe Pflegende Angehörige im Münchener Alten- und Servicezentrum Altstadt zu hören bekommen. „Das hat mir sehr geholfen“, bekennt die inzwischen 71-Jährige.

Zehn Jahre hat sie ihren Mann in den eigenen vier Wänden gepflegt und seine acht Gehirnschläge und schrittweise gesundheitliche Verschlechterung erlebt. „Ich wollte es nicht wahr haben, dass mein Partner so krank ist“, erzählt sie, deshalb brachte sie es einfach nicht übers Herz, ihn in ein Pflegeheim zu geben. Doch schließlich musste sie anerkennen, dass sie nicht mehr konnte.

Offen über Wut und Verzweiflung reden

„Unsere Selbsthilfegruppen bieten vor allem psychische Entlastung“, sagt Michaela Bachmaier. Menschen, die nicht selber pflegen, können die Wut, Verzweiflung und Erschöpfung der Betroffenen, oft nicht verstehen, findet die Sozialpädagogin. Sie betreut selbst eine Selbsthilfegruppe. In diesem Kreis seien Pflegende dagegen unter sich und könnten mit weniger Scham und Angst, verurteilt zu werden, offen über alle ihre Gefühle sprechen. Manchmal sei es nur die Erfahrung ‘Ich bin mit meinen Problemen nicht allein‘, die den Teilnehmern klar macht, dass die Schattenseiten der häuslichen Pflege keine persönliche Unfähigkeit oder fehlende Liebe seien. Sondern völlig normal.

Knapp 3,5 Millionen Bürger in Deutschland finden in Selbsthilfegruppen Unterstützung bei Gleichgesinnten. Bundesweit gibt es zwischen 70.000 und 100.000 Gruppen, schätzt die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfe (NAKOS). Genau weiß das keiner, weil diese Gruppen eben nicht zentral organisiert werden, sondern durch Eigeninitiative entstehen. Christopher Kofahl koordiniert Forschungsprojekte des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, der Medizinischen Hochschule Hannover und der Universität zu Köln. Während der Organisationsgrad über alle Selbsthilfegruppen 8,8 Prozent beträgt, liegt er bei pflegenden Angehörigen lediglich bei 1,4 Prozent. Der promovierte Psychologe vermutet, dass gerade diese Gruppe zeitlich so belastet ist, dass sie in ihrer Freizeit nicht noch einen zusätzlichen Termin im Kalender erträgt.

Pflegende Angehörige sitzen 24 Stunden permanent auf Abruf, ob ihre Unterstützung gefordert ist. „Man verliert das eigene Leben und hat keine Ruhe mehr für sich“, so Bachmaiers Einschätzung. Bleiben doch ein paar Minuten, setzt man sich lieber in den Garten statt in eine Selbsthilfegruppe zu gehen. Dadurch erleben viele Pflegende die Vorteile solch einer Gemeinschaft nicht. Beispielsweise den Erfahrungsaustausch. Fängt etwa die Demenz beim Partner erst an, kämpfen die Angehörigen oft noch für die logische Ordnung: „Heute ist Sonntag, nicht Montag“. Nach zwei, drei Jahren fällt es leichter, die Welt der Dementen zu akzeptieren und die Pflegenden reiben sich zumindest mit derartigen Themen nicht mehr auf. Je früher man den aussichtslosen Kampf aufgibt, desto leichter tut man sich. Die „Anfänger“ könnten von den „Erfahreneren“ profitieren, meint Bachmaier.

Internet als Alternative zur Selbsthilfegruppe

Allerdings könne die Aussicht, wie schlimm die Demenz noch werden könnte, Teilnehmer auch abschrecken, vermutet der Wissenschaftler Kofahl, manches wolle man zu Beginn vielleicht auch noch gar nicht wissen. Obwohl der Hamburger die persönlichen Begegnungen in Selbsthilfegruppen durchaus schätzt, vermutet er, dass vor allem jüngere Menschen die anonymere und schnellere Kommunikation über Internetforen oder Facebookgruppen stärker nutzen. Zudem können Pflegende auf dem Land so leichter Kontakte knüpfen. Gerade wenn die Krankheitsbilder sehr spezifisch sind, kann der nächste Betroffene 50 oder 100 Kilometer weiter weg wohnen. Keine Chance für eine Selbsthilfegruppe, die sich persönlich trifft.

Doch nicht nur die psychische Unterstützung ist den Teilnehmern von Selbsthilfegruppen wichtig. Es sind oft ganz praktische Tipps und Tricks, die die häusliche Pflege leichter machen. So beantragte Monika Schieber die Pflegestufe I für ihren Mann erst, als sie im Alten- und Servicezentrum darüber sprach. Kurze Zeit später erhielt ihr Gatte sogar Pflegestufe II. Dieser praktische Austausch ist für den Münchener Robert Konat der Grund, eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige, die berufstätig sind, zu gründen. Gleich ob es um Krankenkasse, Versicherungen oder Pflegedienste geht, die Rechtslage ist für Laien oft schwer zu durchschauen und die Verunsicherung, welcher Pflegedienst geeignet ist, ist groß.

Konkrete Tipps im Umgang mit Krankenkassen und Pflegediensten

So hatte Konat das Gefühl, dass Dienste ihn und seinen Vater dreimal regelrecht abgezockt haben, ehe er einen geeigneten gefunden hatte. Widersprüchliches erlebte er auch bei der Familienpflegezeit, die seit Beginn des Jahres neu geregelt ist. Während die Krankenkasse dafür eine Pflegestufe voraussetzt, schloss sein Arbeitgeber genau das aus. „Inzwischen weiß ich wahrscheinlich mehr darüber als die Gesetzgeber“, scherzt der promovierte Naturwissenschaftler und Radio-Journalist bitter.
Dass Selbsthilfegruppen große Stabilität geben, zeigt das Beispiel von Monika Schieber. Ihr Mann starb vor mehr als einem Jahr, aber wenn es irgendwie geht, fährt sie weiterhin monatlich zum Treffen. Nach einem Schlaganfall und inzwischen selbst herzkrank, findet sie bei ihren „Leidensgenossen“ Unterstützung und Motivation: „Ich möchte wieder aktiver werden und ins Theater gehen“.


Jens Gieseler ist Kommunikationsberater, Journalist und Heilpraktiker für Psychotherapie. In den letzten beiden Lebensjahren war sein Vater pflegebedürftig. Deshalb hat er sich mit der Pflegebürokratie herumschlagen müssen und viel Sensibilität für das Altern und Sterben entwickelt. Erkenntnis: Beziehungen werden immer wichtiger.