Mit Kinästhetik Senioren leichter heben

Wie Pflegekräfte ihre Kräfte schonen

Bettlägerige oder schwere Pflegebedürftige sind nicht einfach zu bewegen. Um den eigenen Körper zu schonen, können Pflegekräfte kluge Methoden anwenden

Wenn es um kraftschonendes Arbeiten in der Altenpflege geht, liegt in der richtigen Bewegung die Lösung. Um schnell zu mobilisieren und Anstrengungen zu vermeiden, gibt es Pflegekonzepte, die helfen. Doch dafür müssen Pflegende erst einmal die vielen Details einer Bewegung verstehen: Stichwort „Kinästhetik“. Henriette Hopkins hat dazu Videos und eine App entwickelt:  Kinaesthetics Care.

Pflegen kann hart sein, vor allem für den Körper der Fachkräfte. Denn alte Menschen mobilisieren – also halten, heben oder nur beim Gehen helfen – ist anstrengend, wenn man es unbedacht macht.

Vieos und App zeigen Beispiele zum Nachahmen

Es gibt eine App mit Videos, durch deren Hilfe sich der Pflegealltag erleichtern lässt. Die Krankenschwester Henriette Hopkins hat die App 2014 unter dem Namen Kinaesthetics Care auf den Markt gebracht. Diese zeigen ganz detailliert an typischen Situationen und die richtigen Bewegungen, mit denen es leichter geht. „Dabei dreht es sich auch um das gemeinsame Tun. Die Mobilität des Pflegebedürftigen wird gefördert, während die Pflegeperson gleichzeitig entlastet wird“, erläutert die Unternehmerin.

Drei kostenfreie Videos sind beim Download der App inklusive. Wer alle – derzeit elf – Video-Schulungen nutzen möchte, kann sich für 4,99 Euro die Premiumversion kaufen. Auf Dauer soll zudem ein Forum integriert werden, in dem sich pflegende Angehörige auch über große Distanz austauschen können. „Ich entwickle die App ständig weiter. Mehr Videos und zusätzliche Service-Angebote sind bereits in Planung“, sagt Hopkins.

Statt anstrengendem Ziehen lieber entlastender Körperkontakt

Beispiel: Eine Pflegerin will einen Senior von der Bettkante in den Rollstuhl heben. Er wiegt 98 Kilo, sie ungefähr 70. „Das Problem ist, dass die meisten Menschen mit ihren Armen einfach nur drauflosziehen, das benötigt viel Kraft“, erklärt Heidi Bauder-Mißbach. Eine einachsige Bewegung ohne vorherige Entlastung nennt das die Mobilisationsexpertin. Das sorgt für Schmerzen in den Muskeln und Gelenken der Pflegekraft und bringt dem Senior nichts. Er hat dabei wenig Chancen, sich selbst zu bewegen und der Schwester zu helfen.

An mehreren Punkten „andocken“ und vielachsig bewegen

„Stattdessen reduziert das Prinzip „entlasten vor dem Bewegen“ den Transfer des Seniors vom Rollstuhl ins Bett um weit mehr als die Hälfte der benötigten Kraft“, sagt die ehemalige Praxisanleiterin. Statt dem sturen Zerren an Armen und Rücken des Seniors sollte eine Pflegerin also lieber schauen, dass das Knie des Pflegebedürftigen stabilisiert. Und vor allem, dass die Füße des Seniors Gewicht übernehmen bevor sein Gesäß vom Rollstuhl wegbewegt wird. Die dazu notwendige Bewegung geht zuerst kopfwärts, dann seitwärts vom Rollstuhl weg, fußwärts, seitwärts zum Rollstuhl hin und zuletzt wieder kopfwärts:

  • Sie sitzt ihm gegenüber auf einem Stuhl,
  • beugt den Oberkörper vor und lässt den Senior seinen Oberkörper auf ihren Rücken legen.
  • Sie legt eine Hand auf das bettnahe Knie des Seniors und hält auf der anderen Seite seinen Brustkorb.
  • In einem Kreis bewegt sie sich zum Senior hin, dreht ihren Oberkörper, lehnt zurück, dreht sich zur anderen Seite und bewegt sich wieder zum Senior hin.
  • Die Hand auf dem Knie des Seniors leitet dabei sein Gewicht mehr auf das Becken (im Bett), von einer Beckenseite zur anderen, zum Fuß über den anderen Fuß wieder zurück auf das Becken (im Rollstuhl).

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Dieses kontrollierte Be- und Entlasten mittels Druck und Zug bringt den gewünschten Effekt: Das Mobilisieren geht viel leichter. Denn durch das mehrachsige – also in mehrere Richtungen gehende – Bewegen werde die Anstrengung der Pflegekraft sowie des Seniors reduziert, sagt die 60-Jährige, die etwa diese Themen in ihrem Pflegekonzept Viv-Arte vermittelt. Die Anstrengung wirkt durch den ganzen Körper und so gut wie alle Muskeln können an der Bewegung teilhaben.

Hilfe zur Selbsthilfe

„Noch viel wichtiger ist, dass dann die Patienten für ihre Mobilisation viel selbst tun können“, unterstreicht die ehemalige Stationsleiterin. Bei Viv-Arte erlangen Pflegende die entsprechende Kenntnis über Bewegungsabläufe für die Praxis. Denn jede Bewegung lässt sich unter sechs Aspekten beleuchten, die jeweils drei Unterthemen und diese wiederrum drei bis vier Kriterien besitzen. Damit können Ressourcen und Probleme der Patienten diagnostiziert werden und individuelle Vorgehensweisen für Bewegungsförderung bei verschiedensten Problematiken erarbeitet werden.

Heidi Bauder Mißbach hat das VIV-ARTE® Pflegekonzept (VAP) erfunden (Foto: Kinästhetik Plus)
Heidi Bauder-Mißbach hat das VIV-ARTE® Pflegekonzept (VAP) erfunden (Foto: Kinästhetik Plus)

Hintergrund zu Heidi Bauder-Mißbach und Viv-ArteHeidi Bauder-Mißbach verfolgte ihren Traum unentwegt. Sie wollte Krankenschwester werden, trotz zahlreicher Frakturen nach Unfällen, die den Beruf für andere eigentlich unmöglich gemacht hätten. Doch sie machte aus dem Problem eine Tugend: Fasziniert von „guten“ und „schlechten“ Bewegungsabläufen, interessierte sich die Frau aus dem schweizerischen Aarau 1987 für Kinästhetik. In den 70ern von Dr. Frank Hatch geprägt, bedeutet dieser Begriff vor allem die Lehre von der Bewegungsempfindung. „Letztlich ist es ein Interaktions- und Lernsystem, in dem die Wahrnehmung der eigenen Bewegung als zentraler Weg zur ganzheitlichen Gesundheitsförderung betrachtet wird“, erklärt Bauder-Mißbach.
Sie ließ sich von Hatch in Kinästhetik ausbilden und erkannte bei ihrer Arbeit in der Pflege zusammen mit ein paar Kolleginnen, wie sinnvoll es für sie ist, mithilfe der Kinästhetik genau zu lernen, mit welchen Bewegungen etwa schwere Patienten so aus dem Bett zu haben sind, damit man sich leicht tut. „Nur so konnte ich in dem Beruf so lange und überhaupt arbeiten“, blickt die 60-Jährige zurück.
Daraus hat sie mit Unterstützung ihrer Kollegin Elisabeth Kirchner ab 1995 das Pflegekonzept Viv-Arte enwickelt. Kurze Zeit darauf gründete Bauder-Mißbach im baden-württembergischen Asselfingen ihre eigene Firma: Viv-Arte Kinästhetik plus Bewegungsschule und Verlag.
60 registrierte VAP-Teacher bieten hier Seminare an, bei diesen sie Pflegekräfte mithilfe des Viv-Arte Kinästhetik-Plus Lernmodells in Bewegungsförderung während der täglichen Pflege schulen. Jährlich lernen rund 4500 Schüler das Konzept. Besonders stolz ist sie, dass ihre Schule nach DIN ISO 9001 zertifiziert ist.