Pflegekritik: Wir sind nicht in Guantanamo

Pflegekritik ist wichtig. Auch wenn es den Beteiligten nicht immer passt. Es geht darum, ein System zu verbessern. Es menschlicher zu machen. Kritik gehört dazu. Ein Interview mit Pflegekritiker Claus Fussek.

Claus Fussek kritisiert die Pflege, um sie zu verbessern. (Foto: Fotolia)

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Herr Fussek, Sie prangern seit Jahren Missstände in der Altenpflege an. Getan hat sich Ihrer Meinung nach wenig. Wie schätzen Sie derzeit die Situation der Altenpflege in Deutschland ein?

Fussek: Nicht anders als vor zehn oder 20 Jahren. An der dramatischen Situation für pflegebedürftige Menschen hat sich leider kaum etwas verändert. Niemand möchte das wahre Ausmaß der Pflegekatastrophe zur Kenntnis nehmen. Funktionäre der Ärzte- und Pflegeverbände, Kostenträger, MDK, Sozialanwälte, Pflegewissenschaft und viele Heimbetreiber kennen doch die Probleme. Sie leugnen, relativieren ignorieren und bagatellisieren diese in unverantwortlicher Weise. Sie verdienen sehr gut daran, dass fast alles so bleibt, wie es ist. Da hat sich ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis entwickelt. Leider sind „pflegeerleichternde Maßnahmen“ wie Fixierungen, Magensonden und Psychopharmaka in sehr vielen Pflegeheimen und Krankenhäusern Normalität. Aber selbstverständlich geht es auch anders: Ich kenne zahlreiche Einrichtungen, in denen es keine Fixiergurte und auch keine Magensonden gibt.

Um die Pflege und Betreuung neu zu gestalten, fordern Sie vor allem Ehrlichkeit. Was meinen Sie damit konkret?

Fussek: Die Situation ist doch absurd: Es ist längst nicht mehr fünf vor zwölf. Wir befinden uns in einer Phase, wo ein Umdenken nur noch durch radikale Schritte zu erreichen ist. Die Defizite in der Alten- und Krankenpflege, die Arbeitsbedingungen, der Personalmangel sind längst bekannt und werden seit Jahren öffentlich kritisiert. Viele Menschen sind in Heimen und Krankenhäusern tätig und tragen dort die Verantwortung. Es wissen doch alle Bescheid. Diese Einrichtungen sind doch nicht in Guantanamo. Jeder der es wissen will kann sich doch vor Ort selber ein Bild machen. In den Heimen leben unsere Eltern, Großeltern, unsere Angehörigen! Warum werden die Funktionäre der Heimbetreiber, Kostenträger und Politiker nicht endlich ehrlich und ungeschönt mit der Pflegerealität konfrontiert?

Welche strukturellen Änderungen sind nötig, um die Situation in der Pflege zu verbessern?

Fussek: Hier haben wir nun wahrlich keinerlei Erkenntnisprobleme. Die zahlreichen „Leuchttürme“, „Best Practice“ Beispiele können jederzeit besucht und in unzähligen Fachbüchern, Fachzeitschriften und im Internet nachgelesen werden. Wir brauchen keine neuen wissenschaftlichen Studien, Modellprojekte, Langzeitstudien, (unverbindliche) Empfehlungs-(Eckpunktepapiere), Resolutionen, und Bündnisse. Wir brauchen einfach viele Plagiate dieser positiven Einrichtungen und häufig einfach nur den gesunden  Menschenverstand. Es geht uns doch früher oder später alle an. Schlechte Heime müssen vom Markt, gute Einrichtungen müssen stärker unterstützt werden.

Für die Missstände und Strukturen in der Altenpflege gibt es Verantwortliche und Zuständige, sind Sie überzeugt. Wer ist das und was werfen Sie ihnen vor?

Fussek: Für meine Eltern sind selbstverständlich meine Geschwister und ich verantwortlich. Das nennt man Generationenvertrag. Für die alten, pflegebedürftigen Menschen in den Heimen und Krankenhäusern sind Leitung und die Pflegekräfte verantwortlich. Wer denn sonst? Sicherlich nicht Herr Bahr oder andere Politiker! Mit Abschluss eines Versorgungs- und Heimvertrags sind Verantwortung und Zuständigkeiten klar geregelt. Angehörige und ggf. gesetzliche Betreuer bleiben weiterhin in Verantwortung, ebenso wie die behandelnden Ärzte.

Ich begreife auch nicht, warum so viele Pflegekräfte und Ärzte immer noch mitmachen. Die meisten haben offensichtlich mehr Angst vor ihren eigenen Kolleginnen und Vorgesetzten als vor dem Staatsanwalt. Wo sind ethische Verantwortung, Zivilcourage, Hippokratischer Eid und Selbstachtung geblieben? Gibt es noch so etwas wie Selbstbewusstsein und beruflichen Ehrenkodex in den Pflegeberufen? Alten- und Krankenpflege gehören zu den krisensichersten Berufen dieser Gesellschaft. Eigentlich müsste sich die Pflegebranche eine ähnliche Macht bündeln, wie zum Beispiel bei den Lokführern. Während Lokführer um ihre Recht kämpfen, ergeben sich viele Pflegekräfte in ihr Schicksal. Das „Whistleblower“- Urteil der mutigen Altenpflegerin Brigitte Heinisch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist doch peinlich für die meisten Wohlfahrtsverbände, Heimbetreiber, Berufsverbände, aber auch für einen Teil der Pflegekräfte, die kritische Kollegen immer noch als Nestbeschmutzer mobben und im Stich lassen.

Das Lieblingsfeindbild der Pflege ist bei jeder Pflegediskussion der MDK! Ottilie Randzio vom Medizinischen Dienst Bayern forderte vor einigen Jahren die Pflegekräfte beim Pflegestammtisch in München zu mehr Ehrlichkeit auf: „Dokumentiert nur, was ihr leisten könnt“, sagte sie. „Nur so ist es möglich die strukturellen Defizite in der Pflege schwarz auf weiß darzustellen“. Die Präsidentin des Berufsverbandes für Pflegeberufe, Gudrun Gille, räumt im „Berliner Tagesspiegel“ vom 2.11.2011 ein: „Schüler in der  Altenpflegeausbildung lernen schon, mehr zu dokumentieren, als tatsächlich getan wird!“ Für mich ist das eine Bankrotterklärung, ein Offenbarungseid für die Pflegekultur. Dokumentenfälschung ist im Normalfall strafbar. Aber niemand geht diesem Problem nach. Selbst Kassenvertreter tolerieren den Betrug. Zur Erinnerung: Alle Mitarbeiter des MDK sind examinierte Pflegekräfte, PDLs, Heimleitungen, die früher in Pflegeheimen tätig waren. Sie alle wissen aus eigener Erfahrung wie man Dokumentationen fälscht.

Wir führen seit Jahrzehnten eine absurde Diskussion ohne Gegner! Es gibt in Deutschland niemand, der für schlechte Pflege ist, niemand möchte nach Minuten gepflegt werden, keine Pflegekraft hat gelernt im Akkord zu pflegen. Auch fast alle Politiker und die Kostenträger sind für schlanke Dokumentationen und für eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte. Übrigens sind doch die mächtigsten Arbeitgeber in Deutschland die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände. Die Betreiber schlechter Heime sind juristisch und PR-mäßig sehr gut aufgestellt und verhindern die Veröffentlichung schlechter Noten.

Herr Fussek, mit Ihren Äußerungen spalten Sie seit Jahren die Branche. In einem Vortrag sagten Sie einmal: „Inzwischen kann ich meine eigenen Forderungen und Argumente nicht mehr hören“. Mit Verlaub: Viele Heimbetreiber denken da „Wir auch nicht“. Was macht Sie in manchen Pflegekreisen zur persona non grata?

Fussek: Ich bin fassungslos, wie viele Menschen in der Pflege seit vielen Jahrzehnten Bescheid wissen, mitmachen, schweigen und in diesem System ihr Geld verdienen. Niemand entschuldigt und schämt sich! Die Referenten der unzähligen Kongresse, Diskussionen, Runder Tische, Expertenanhörungen usw. kennen einander wie auch ihre jeweiligen Argumente sehr gut. Es ist doch eine groteske und verhängnisvolle Strategie: Es werden von vielen Funktionären der Pflegebranche bundesweit seit vielen Jahren die schlechten Rahmenbedingungen angeprangert. Gleichzeitig behaupten sie aber bei jeder Gelegenheit, dass sie unter diesen Bedingungen eine gute und optimale Pflege leisten. Die Pflegeszene erfreut sich eines Zertifizierungswahnsinns, der MDK verteilt Bestnoten und viele Träger verkünden stolz 100 Prozent Kundenzufriedenheit. Solche Ergebnisse kann man nur schwer verbessern. Im Fußball nennt man so etwas Eigentor. Fast alle machen wieder mit.

Wir müssen die Pflegebranche spalten den Corpsgeist beenden. Jede Heimleitung, jede Pflegekraft, jeder Arzt  kennt doch die schlechten Heime. Solange diese nicht vom Markt verschwinden, werden die guten Heime  zwangsläufig, wie beim Doping im Radsport, unter Generalverdacht stehen. Die ehrlichen Radfahrer haben sich nach langer Zeit des Schweigens endlich distanziert und für sich unangemeldete Dopingkontrollen gefordert. Die überführten Täter müssen ausgeschlossen und deren Namen veröffentlich werden.

Sie gelten bei einigen als Nestbeschmutzer, als einer, der das öffentliche Bild der Altenpflege zerstört und die Rahmenbedingungen noch schwerer macht, obwohl viele in der Pflege Tätigen ihr Bestes tun, um die Pflege voran zu bringen. Wie begegnen Sie diesen Vorwürfen?

Fussek: Seit vielen Jahren erhalte ich täglich zahlreiche Emails, Anrufe und Briefe von verzweifelten Pflegekräften und Angehörigen aus der bundesdeutschen Pflegeszene in den vergangenen 15 Jahren weit über 40 000, zwei Drittel von Pflegekräften. Leider melden sich nur ganz wenige mutige Ärzte und Notärzte und berichten mir von schrecklichen Zuständen, die sie bei Besuchen in Pflegeheimen erleben. Ich war fassungslos, als mir ein Klinikarzt erklärte: „Wenn wir ehrlich sind jeder Oberschenkelhalsbruch, jeder Decubitus ist doch ein Wirtschaftsfaktor in der Chirurgie. Das sichert dort die Arbeitsplätze.“ Leider gelten auch kritische und verantwortungsbewusste Ärzte oft immer noch als Nestbeschmutzer.

Meine Kritiker empören sich nicht über die Zustände in den Pflegeheimen, haben kein Mitgefühl mit den pflegebedürftigen Menschen und den verzweifelten Pflegekräften. Sie sorgen sich ausschließlich um den Ruf der  Pflegebranche: Empörung nur wegen der Veröffentlichung der Missstände, der Skandalisierung und Verunglimpfung der Heime, des Generalverdachtes aller Pflegekräfte, es handelt sich doch nur um ein paar bedauerliche Einzelfälle, schwarze Schafe. Statt einer Allianz des Schweigens, Wegschauens, Relativierens und Schönredens brauchen wir endlich eine Allianz der gemeinsamen Verantwortung, Partnerschaft, der Zivilcourage und eine ehrliche, transparente Diskussion.

Es gibt sie aber dennoch, die gute Heime und Träger, die öffentlich zu Ihnen stehen und mit Ihnen zusammenarbeiten. Das betonen Sie immer wieder. Was macht den Unterschied aus?

Fussek: Ein Pflegeheim ohne Mängel kann es nicht geben. Entscheidend für eine gute Einrichtung ist, wie mit ihren Fehlern und Beschwerden umgegangen wird. Eine weitere banale Erkenntnis: Der Fisch stinkt vom Kopf. Ich habe in den vergangenen Jahren zahlreiche Geschäftsführungen, Heimleitungen und Pflegekräfte kennen gelernt, denen ich meine Eltern anvertrauen würde. Das Konzept ist denkbar einfach: Zufriedene Mitarbeiter, die sich mit ihrem Arbeitsplatz identifizieren und ein fairer, offener, ehrlicher, wertschätzender Umgangston mit allen Mitarbeitern. In diesen Häusern gibt es kaum Personalfluktuation und eine niedrige Krankheitsquote. Engagierte Kräfte zeigen Leidenschaft, Begeisterungsfähigkeit, Kreativität, fachliche und soziale Kompetenz und Veränderungsbereitschaft. Diese Motivation kann es selbstverständlich nur in einer angstfreien Arbeitsatmosphäre geben, wo Mobbing ein Fremdwort ist. Eine offene Beschwerdekultur, ein gelebtes Leitbild, familienfreundliche Arbeitszeiten, tarifliche Bezahlung und viele Auszubildende ergänzen das Bild eines offenen Heimes. In diesen Einrichtungen ist Transparenz selbstverständlich und für Pflegenoten interessiert sich niemand.

Herr Fussek, Ihre Schilderungen fußten bislang in erster Linie auf Erfahrungsberichten anderer. Nun kommt eine andere, persönliche Perspektive hinzu: Ihre Mutter ist pflegebedürftig und wird zu Hause versorgt. Was bedeutet das für Sie – und wie erleben Sie die Pflege?

Fussek: Seit einigen Jahren sind meine beiden Geschwister und ich pflegende Angehörige. Unsere 81-jährige Mutter hat schwere Altersdepressionen und lebt mit unserem 90-jährigen Vater in der Nähe von München in der eigenen Wohnung. Wir kümmern uns rund um die Uhr, mit Unterstützung einer festangestellten Krankenschwester, die tagsüber bei den Eltern ist. Wir haben sehr unterschiedliche Erfahrungen in drei psychiatrischen Kliniken und zwei Akutkrankenhäusern gemacht. Es hat sich in den meisten Einrichtungen schnell herumgesprochen, dass „dass die Mutter vom Fussek hier ist“. Selbstverständlich waren wir abwechselnd beinahe täglich zu Besuch und haben sehr viel gesehen und gehört. Wir hatten viele sehr interessante Gespräche mit engagierten Pflegekräften, die mir ihre Probleme anvertrauten, aber anonym bleiben wollen. Obwohl meine Mutter keine Vorzugsbehandlung wollte war diese wohl nicht zu vermeiden. Auch ich musste in einer Klinik erleben, dass meine Mutter mich gebeten hat, mich nicht zu beschweren, obwohl die Zustände Anlass genug gegeben hätten. Hier hat der Name nicht geholfen. Die Pflege meiner Mutter wurde häufig genauso unzureichend ausgeführt, wie bei den anderen Patienten.

Auch habe in den letzten Jahren aus eigenem Erleben erkennen müssen: Wer es nicht selber erlebt hat, der kann das alles nicht nachvollziehen. Und: In jedem Pflegeheim und in jeder Klinik müssen Sie sich regelmäßig um ihre Angehörigen kümmern, das Personal unterstützen. Eine weitere schmerzhafte persönliche Erkenntnis: Je größer die Verzweiflung, desto niedriger werden die Ansprüche. Angehörige und auch engagierte Pflegekräfte werden mit diesem Alptraum alleine gelassen. Eines der größten Probleme der Alten ist die Einsamkeit.

Angesicht Ihrer jahrzehntelangen – und nun auch persönlichen – Erfahrung: Haben Sie überhaupt noch Hoffnung, dass sich etwas zum positiven ändert?

Fussek: Seit über 30 Jahren arbeite ich im Leitungsteam eines ambulanten Pflegedienstes. Zuvor hatte ich fünf Jahre in einer Einrichtung für Menschen mit Körperbehinderung gearbeitet. Wenn mir jemand vor 20 Jahren gesagt hätte, dass es so viele schwere Missstände und Menschenrechtsverletzungen in bundesdeutschen Pflegeheimen und Krankenhäusern geben würde, ich hätte diesen Menschen zum Arzt geschickt. Besonders grausam empfinde ich die oben beschriebene gewaltige Allianz des Schweigens, die mich sehr stark an die Missbrauchsdiskussion in den Kirchen erinnert. Ich denke wir müssen uns an der Bereitschaft der Kirchen, die Geschehnisse aufarbeiten zu wollen, ein Beispiel nehmen: Es wurde selten von nur ein paar bedauerlichen Einzelfällen und ein paar schwarzen Schafen gesprochen. Es war klar, wer Opfer ist und wer Täter. Beim Thema Pflege schweigen die Kirchen. Ich bin davon überzeugt, dass sich die katholische Kirche eher vom Zölibat verabschiedet, als dass das Thema Pflege zur Schicksalsfrage der Nation erklärt wird. Bei der Recherche für unser Buch, „Im Netz der Pflegemafia“ haben wir trotz unserer kritischen Thesen viel Zuspruch erfahren. Solange gute Pflege in diesem System bestraft wird und man an den Folgen schlechter Pflege sehr viel Geld verdienen kann, solange wird sich an den Missständen nichts ändern können. Das Produkt Pflege ist nicht markt- und börsenfähig. Es verdienen zu viele Verantwortliche in der Pflege daran, das sich nichts bewegt!