Ich pflege: Brigitte Hennig (66)

„Frontotemporale Demenz ist Sterben auf Raten“

(Foto: privat)

Name: Brigitte Hennig
Alter: 66
Beruf: Grundschullehrerin im Ruhestand
Pflegeumfeld: Zuhause
Pflegt seit: 2014

Frau Hennig, Sie pflegen Ihren erwachsenen Sohn. Wie kam es dazu?

Mein Sohn war Sozialpädagoge, verheiratet mit zwei Kindern. Plötzlich zog unsere Schwiegertochter aus. Mein Mann und ich machten uns Sorgen. Florian hatte sich komplett zurückgezogen. Erst dachten wir, er sei depressiv. Ein halbes Jahr haben wir gebraucht, um an ihn ranzukommen. Dann begann die reinste Arzt-Odyssee. Anfang 2014 wurde Florian in die Psychiatrie eingewiesen. Dort fiel zum ersten Mal der Begriff Frontotemporale Demenz.

Frontotemporale Demenz – was bedeutet das?

Neuronen im Stirn- und Schläfenbereich (Fronto-Temporal-Lappen) des Gehirns sterben ab. Von dort werden Emotionen und Sozialverhalten gesteuert. Florian konnte sich nicht mehr an Regeln halten. Er klaute Süßigkeiten im Einkaufsladen, blieb beim Essen nicht mehr sitzen. Seine Persönlichkeit hat sich stark verändert. Inzwischen kann er kaum noch sprechen. Beschäftigt sich mit allem nur sehr kurz. Viele Sachen funktionieren nicht mehr allein. Wie essen oder sich waschen. Dazu kommt eine beginnende Inkontinenz.

Und das obwohl Ihr Sohn erst 40 Jahre alt ist.

Diese Form der Demenz tritt viel früher auf als die Alzheimer-Krankheit. Florian ist jung und körperlich fit. In der Psychiatrie haben sie ihn oft eingesperrt und festgebunden. Er konnte sich ja nicht wehren. Nach fünf Monaten haben wir ihn nach Hause geholt. In ganz Deutschland gibt es kaum spezielle Pflegeheime für FTD-Kranke. Auch in unserer weiteren Umgebung konnten wir keine passende Einrichtung für unseren Sohn finden. Heime für Demenzkranke sind nicht auf junge Menschen eingestellt. Dort ist er mehrfach abgehauen.

Wie schaffen Sie es, Ihren Sohn Zuhause zu betreuen?

Wir haben uns Hilfe geholt. Florian wird täglich sechs Stunden betreut. Zusätzlich kommt zweimal wöchentlich eine liebe Dame für zwei Stunden am Vormittag. Die Pflege ist sehr anstrengend. Florian ist unruhig und sehr mobil. Es kommt vor, dass er nachts um zwei vor meinem Bett steht und nach einer Zigarette fragt. Allerdings wird manches auch leichter. Er ist nicht aggressiv, wie manche andere FTD-Patienten. Im Gegenteil, mein Sohn wird immer mehr zum Kind – ein liebes Kind – aber er ist nicht mehr die Person, die er war.

Sie sagten, Ihr Sohn hat zwei Kinder. Wie nehmen die Beiden seine Krankheit wahr?

Die Kids sind jetzt sechs und neun Jahre alt. Sie lassen sich natürlicher auf die Situation ein als wir Erwachsenen. Wenn die Zwei zu Besuch sind, ist Florian wie ausgewechselt. Plötzlich geht manches, was sonst nicht mehr klappt. Er kann mit ihnen ein Stück spazieren gehen oder eine halbe Stunde sitzen bleiben. Überhaupt geht er sehr zärtlich mit den Kids um. Streicht ihnen übers Haar. Trotzdem merken sie, dass ihr Vater sich verändert. Mein Enkel sagte letztens zu mir: „Oma, ich glaub der Papa wird nicht mehr gesund.“

Seit einem Jahr wohnt Florian wieder Zuhause (Foto: privat)

Wie haben Sie als Eltern die Diagnose verdaut?

Anfangs war es natürlich eine Katastrophe. Die Krankheit ist nicht heilbar. Ich sagte mir immer wieder: Das kann nicht sein. Mein Sohn, der so fit war, das Abi mit links geschafft hat, studiert hat und immer Wert auf Intellektualität gelegt hat… FTD ist ein Sterben auf Raten. Florian ist wieder ein Kind, ein Kind, das ich liebe. Aber er ist nicht mehr der frühere Florian. Heute habe ich meinen Frieden mit der Situation gemacht und versuche meinen Sohn so gut es geht zu versorgen.

Bekamen Sie von den Ärzten Informationen über die Krankheit?

Nein. Wir mussten uns alles selbst zusammensuchen. Die Krankheit ist selten und wenig bekannt. Ich bin mir sicher, dass manche Fälle nie erkannt werden. Irgendwann fand ich heraus, dass sich der Stoffwechsel im Gehirn mit einem bestimmten Verfahren (PET) sichtbar machen lässt. Wenn da nichts passiert, ist die Diagnose sicher. Fünf Monate war Florian in der Psychiatrie und es war nicht möglich, den Test dort zu machen. Also nahm ich es selbst in die Hand. Innerhalb einer Woche bekamen wir den Termin in der Neurologie der Uni-Klinik Ulm. Dort hat sich unsere Vermutung bestätigt.

Was raten Sie anderen betroffenen Familien?

 

  1. Sucht Kontakt zu anderen. Über das Netzwerk der Deutschen Alzheimer Gesellschaft habe ich zwei Mütter kennengelernt, deren Töchter FTD hatten und inzwischen gestorben sind. Es tröstet ungemein verstanden zu werden und Rückhalt zu bekommen.
  2. Lasst euch nicht erschrecken. Schaut, was wie mit eurem Angehörigen möglich ist und macht für ihn das Beste daraus. Versucht nicht ihn zu „erziehen“. Das ist nicht möglich.
  3. Holt euch Hilfe von außen. Oft finden Menschen einen Zugang zu eurem Angehörigen, von denen ihr es nicht erwartet hättet. Bei uns ist es die Haushaltshilfe, die Florian zum Lachen bringt.
  4. Führt ein Pflegetagebuch. So könnt ihr der Pflegekasse darlegen, wie viel Aufwand ihr wirklich habt – obwohl euer Angehöriger möglicherweise sehr mobil ist. Ein Beispiel: Florian kann zwar die Gabel selbst zum Mund führen, trotzdem muss er während des Essens beaufsichtigt werden. Das ist Pflege.
  5. Und zuletzt ganz wichtig: Versteckt euch nicht. Ich habe sehr gute Erfahrungen mit Ehrlichkeit gemacht. Klärt die Menschen auf, warum sich euer Angehöriger so verhält. Manchmal habe ich Kärtchen dabei, auf denen Florians Krankheit beschrieben ist. Bisher hat noch niemand sich brüskiert gefühlt. Ihr könnt nichts dafür und euer Angehöriger kann ebenfalls nichts für seine Erkrankung.