Ich pflege: Claudia Bohn (53)

„Keine Zeit ist keine Ausrede“

(Foto: privat)

Name: Claudia Bohn
Alter: 54
Ort: Lindau
Beruf: Altenpflegerin/ Fachkraft Gerontopsychatrie
Pflegeumfeld: Pflegeheim
Pflegt seit: 1993

Sie sind seit 20 Jahren in derselben Einrichtung tätig. Wie hat sich die Pflege verändert?

Es hat sich viel verbessert. Natürlich kann ein noch so gutes Heim das eigene Zuhause nicht ersetzen, aber bei uns im Haus fühlen sich Bewohner, Gäste und Pflegekräfte wohl. Es herrscht eine gute Atmosphäre. Unsere Betreuungsphilosophie ist an die Eden-Alternative (siehe Infokasten) angelehnt. Die Senioren in den Alltag einzubinden und Normalität zu leben, spielt dabei eine große Rolle.

Wie sieht das Leben auf den Stationen aus?

Auch im Alter wollen Menschen Gemeinschaft und sinnvolle Beschäftigung. Deshalb arbeiten wir auf unserer Station nach dem Normalitätsprinzip. Im Herbst Kastanienmännchen zu basteln, mag eine schöne Idee sein. Passt aber nicht immer in die Lebensrealität der Bewohner. Sie empfinden diese ‚künstlichen‘ Beschäftigungen als sinnlos. Und das wiederum führt zu Frust. Deshalb sehen Besucher unsere Bewohner abspülen, Socken sortieren oder Essen anreichen. Alles Tätigkeiten, die alte Menschen aus ihrem früheren Alltag kennen und die Sinn ergeben.

Wie wirkt sich dieses Prinzip auf die Bewohner aus?

Das Gefühl „Ich bin noch nützlich“ beugt Verbitterung vor. Diese tritt schnell ein, wenn sich ein Mensch wertlos fühlt. Bei uns kann und soll jeder, seinen Fähigkeiten entsprechend, ein kleines Stück Verantwortung übernehmen, seinen Alltag mitgestalten. Eine blinde Bewohnerin schiebt zum Beispiel eine Dame im Rollstuhl. Die Frau im Rollstuhl sagt wiederum an, wo’s langgeht. So unterstützen sich die Menschen gegenseitig.

Was könnten andere Einrichtungen Ihrer Meinung nach besser machen?

In vielen Einrichtungen dreht sich alles um „besondere Gelegenheiten“. Natürlich ist ein Sommerfest oder eine Weihnachtsfeier ein schönes Erlebnis. Aber meist sind es Kleinigkeiten, die die Lebensqualität bestimmen. Im Sommer, als es so heiß war, haben wir mit einer Gruppe Bewohnern spontan einen Ausflug zum Kneippbecken gemacht. Einige Kindergartenkinder haben uns begleitet. Da war Chaos vorprogrammiert. Für das Pflegepersonal ist so eine Situation eine Herausforderung. Aber am Ende des Tages hatten alle eine schöne Zeit.

Das klingt relativ zeitaufwendig…

Das Thema Zeit ist in der Pflege immer ein großes Thema, da ist gute Zusammenarbeit wichtig. Auch bereichsübergreifend. Wer den Ausbruch aus dem Alltag ermöglichen will, der muss Spontaneität beweisen. Das funktioniert bei uns meist recht gut. Weil alle Mitarbeiter hinter unserem Konzept stehen.

Der Faktor Zeit darf keine „Ausrede“ sein.  Persönliche Pflege braucht bei regelmäßiger Anwendung nicht unbedingt mehr Zeit. Deshalb ist es wichtig Pflegetechniken, die die Lebensqualität der Bewohner erhöhen, in den Alltag einzubauen. Wenn der Wille da ist, dann ist auch die Zeit vorhanden.

Stichwort: Prioritäten setzen.

Genau. Ich pflege eine Bewohnerin, die schlecht schläft. Natürlich könnte ich ihr einfach jeden Abend eine Schaftablette geben. Aber Medizin sollte im Dienst echter Fürsorge stehen, nicht ruhigstellen. Ich zünde stattdessen lieber Duftkerzen an, spiele beruhigende Musik und mache eine basale Ausstreichung mit ätherischen Ölen. Mir bereitet es Freude zu beobachten, wie die Bewohnerin bei richtiger Atmosphäre entspannt, ruhiger wird und einschläft. So bekommt Pflege eine andere Qualität.

Was könnte in der Pflege allgemein verbessert werden?

Du kannst Holz hacken ohne Herz und Seele, aber nicht pflegen. Wir brauchen engagiertes und qualifiziertes Personal in der Pflege. Die Bewohner sind in ihren Bedürfnissen so individuell, wie die Mitarbeiter in ihren Kompetenzen. Der individuelle Zugang, sei das nun Musiktherapie, Märchen für Demente oder eine Therapiepuppe, muss für Beide passen. Dazu brauchen wir fittes Pflegepersonal, das sich kontinuierlich fort-und weiterbildet. Jeder Heimleitung sollte dies ein Anliegen sein.

Funktioniert das in der Einrichtung, in der Sie arbeiten?

In unserem Haus finden regelmäßig vielfältige Fortbildungen statt. Davon profitieren nicht nur die Bewohner: Auch wir Mitarbeiter lernen in unserem doch anstrengendem Arbeitsalltag unsere Fähigkeiten gezielt einzusetzen.

Eden-Alternative
Das in den USA entwickelte Betreuungskonzept besagt, dass die Hauptleiden des Alters durch soziale Isolation entstehen. Eine krankenhausähnliche Situation in Pflegeheimen ruft Langeweile, Einsamkeit und das Gefühl nutzlos zu sein hervor. Für Häuser, die nach der Eden-Alternative arbeiten, steht die Fürsorge für Bewohner und Mitarbeiter im Vordergrund. Es wird ein Arbeits- und Wohnumfeld geschaffen, das sich an Bedürfnissen wie Geselligkeit, Spontanität und Nähe orientiert. Ziel ist es, dass Einrichtungen offener werden. Menschen aller Altersgruppen, Tiere und Gemeindemitglieder sollen ein- und ausgehen. Wie das bei einer großen Familie selbstverständlich ist. Mehr zum Konzept