Ich pflege: Kerstin Vietze (43)

„Unsere Gesellschaft ignoriert ihre Alten“

(Foto: privat)

Name: Kerstin Vietze
Alter: 43
Ort: Berlin
Beruf: Altenpflegerin
Pflegeumfeld: ambulante Pflege
Pflegt seit: 1993

Was zeichnet Ihrer Meinung den Umgang unserer Gesellschaft mit alten Menschen aus?

Unsere Gesellschaft sieht Senioren zu wenig. Erkennt Sie zu wenig an. Ich durfte noch Menschen pflegen, die im Kaiserreich aufgewachsen sind. Echte Zeitzeugen, die mir aus ihrer Biographie erzählt haben. Keiner interessiert sich, keiner hört ihnen zu. Das muss sich ändern, sonst geht Wissen verloren.

Wie hat sich die Pflege in den letzten Jahren verändert?

Die Klientel verändert sich. Immer mehr Leute erkranken schwer, bevor sie 65 Jahre alt werden. Es gibt viele junge Menschen, die pflegebedürftig sind. Letztens sollte ich ein Kind versorgen. Das habe ich nicht gemacht. Dazu fehlt mir die Expertise.

Welche Folgen hat die Verjüngung der Pflegefälle für die Pflege?

Die Anforderungen sind anders. Dazu kommen Suchtprobleme. Ich bin schon aus Wohnungen geflohen, weil Suchtkranke ihr Mobiliar zerschmettert haben. Für diese Situationen fühle ich mich nicht umfassend genug ausgebildet. Wo sind die Anlaufstellen für solche Fälle? Es existieren kaum Einrichtungen, die auf die Versorgung von Jüngeren spezialisiert sind.

Sie arbeiten in der ambulanten Pflege, warum nicht stationär?

Als Pflegeschülerin habe ich auf Station gearbeitet. Heute wird diese Zeit gerne romantisiert. Ich kann sagen: Damals war auch nicht alles Gold. Es gab zwar genug Personal, aber die Professionalisierung hat gefehlt. Mich hat zutiefst schockiert, wie damals die Bewohner behandelt wurden. Pflege war wie Warenabfertigung. Den Menschen wurde die Persönlichkeit genommen. Ich hatte irgendwann das Gefühl, ich versorge immer die gleiche Person.

Wie ist Ihr Eindruck von der stationären Pflege heute?

Heute sind Pflegekräfte besser ausgebildet. Aber es herrscht Druck. Das Wissen ist vorhanden, aber für professionelle Pflege fehlt die Zeit. Auf individuelle Bedürfnisse, wie Schluckbeschwerden, können sie kaum Rücksicht nehmen. In der ambulanten Pflege ist der Kontakt zum Klienten persönlicher.

Wofür sind Sie in der ambulanten Pflege zuständig?

Zurzeit arbeite ich in der Qualitätskontrolle und war dort an der Erstellung von Richtlinien beteiligt. Darüber gab‘s hitzige Diskussionen. Ich habe mich ziemlich aufgerieben. Aber in der Bürokratie ist es wie in der Pflege: Die Erfolge siehst du häufig erst mit etwas Abstand. Heute bin ich stolz auf die Verbesserungen, die ich erreicht habe.

Wie sehen diese Verbesserungen aus?

Ich habe mitgeholfen, ein Projekt zur Entbürokratisierung umzusetzen. Wir haben jetzt in der Pflege mehr Möglichkeiten, die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten zu berücksichtigen. Mir ist es wichtig, meinen Kollegen die Individualität der Menschen, die unserer Unterstützung bedürfen, nahe zu bringen.