PTBS in der Pflege

Pflegekräften fehlt seelische Betreuung nach belastenden Ereignissen

Redeangebote, in denen Pflegekräfte belastende Ereignisse aufarbeiten können, sind in Deutschland selten. (Foto: Fotolia)

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) verbinden wir mit Kriegsveteranen oder Opfern von Gewalt. Aber auch Pflegende sind gefährdet: Wenn liebgewonnene Bewohner sterben oder Kinder dahinsiechen, werden Pflegekräfte mit ihren Gefühlen allein gelassen.

„Arbeitgeber lassen ihre Pflegekräfte im Stich“, urteilt Roberto Rotondo. Der examinierte Krankenpfleger arbeitete elf Jahre in der Pflege, davon sechs auf Intensivstationen. Heute betreut der Psychologe in einer Pflegeeinrichtung Bewohner, Angehörige und Personal. Psychologen oder Seelsorger, die sich nach erschütternden Ereignissen um Pflegekräfte kümmern, sind in der Branche selten. „In der Pflege sprechen Viele nicht über traumatische Erlebnisse“, weiß der 54-Jährige aus eigener Erfahrung, „Familie und Freunde sind der Geschichten über Leiden und Tod schnell überdrüssig. Und von den Kollegen heißt es: ‚Das gehört zum Job‘“.

 

Um das Schweigen zu durchbrechen, beschloss der Hamburger gemeinsam mit seiner Frau, der Psychoanalytikerin Ute Hensel, einen Film über PTBS in der Pflege zu drehen. Provokativ titelte er diesen: „Als Krankenschwester musst du das abkönnen“. In dem crowd-finanzierten 42-Minüter treten vier Intensivpflegekräfte auf. Vor laufender Kamera berichten die Pflegeprofis von Erlebnissen, die ihnen im Arbeitsalltag unter die Haut gingen: Einer Zehnjährigen beim Sterben zuzusehen. Einen Patienten zu versorgen, der maschinell wiederbelebt wird. Und dabei unter tosendem Lärm von der Maschine geradezu zertrümmert wird. Eltern mitteilen zu müssen, dass sie ihr dreijähriger Sohn in der Fuhrrille eines Treckers ertrunken ist. Mit Tränen erstickter Stimme liefert die Krankenpflegerin das Schlüsselzitat des Films: „Ich hätte an diesem Tag Hilfe gebraucht“. Bis heute existiert diese Hilfe in der Pflege nicht.

 

Jede fünfte Pflegekraft leidet unter chronischem Stress

Georg Roth ist Mitbegründer von Carepaket. (Foto: Privat)

Einer der das ändern will, teilt im Film ebenfalls seine Geschichte: Georg Roth. Der Intensivkrankenpfleger und Experte für Stressbearbeitung vermutet, dass jede fünfte Pflegekraft unter chronischem Stress leidet. Klassische Auslöser seien der Tod von Kindern, Jugendlichen oder Kollegen. Da erschütternde Erlebnisse in der Pflege nicht systematisiert aufgearbeitet werden, blieben Pflegekräfte mit ihrer Wut, Trauer oder Hilflosigkeit oft allein.

Traumata wiedererleben

Weinen, Schreien und alleine sein wollen, seien völlig normale und gesunde Reaktionen, versichert der Ravensburger. Monate nach dem Erlebnis in Tränen auszubrechen hingegen nicht. PTBS ist die verzögerte Reaktion auf ein zutiefst erschütterndes Ereignis. Wer an einer solchen Belastungsstörung leidet, erlebt sein Trauma immer und immer wieder: Verdrängte Erinnerungen verfolgen Betroffene im Schlaf. Reize, wie Gerüche oder Geräusche, schleudern PTBS-Patienten emotional zurück in die Situation ihres Kontrollverlustes. Von Angst und Hilflosigkeit übermannt, fallen sie häufig in einen Schock ähnlichen Zustand.

Warnzeichen

Deshalb meiden Betroffene oft Orte und Aufgaben, die sie mit den Ereignissen verbinden. Kollegen sollten deshalb aufmerken, wenn Pflegekräfte das Zimmer eines Verstorbenen meiden oder plötzlich keine Spritzen mehr setzen wollen. PTBS-Erkrankte schlafen schlecht, reagieren gereizt oder übermäßig schreckhaft und haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Sie vernachlässigen Hobbys und Tätigkeiten, die Ihnen früher Freude bereitet haben. Die Symptome sind jedoch von Mensch zu Mensch unterschiedlich. „Viele, die unter posttraumatischem Stress leiden, wirken teilnahmslos oder geistig abwesend“, erläutert Roth, „Andere sind ständig nervös oder überdreht.“ Da Depressionen und Angstzustände zu möglichen Symptomen von PTBS zählen, haben selbst Profis Schwierigkeiten das Leiden zu diagnostizieren. Die anschließende Therapie kostet Betroffene viel Zeit und Kraft. Oft sind sie über Monate oder Jahre nicht arbeitstauglich.

Pflegekräfte fühlen sich schuldig

Georg Roth ist Mitbegründer von Carepaket. (Foto: Privat)

Um Belastungsstörungen im Vorfeld zu verhindern, betreuen Roth und seine Kollegen von „carepaket – Bildung & Beratung60 Unternehmen bei der Stressbearbeitung nach belastenden Vorfällen. Darunter sind viele Pflegeeinrichtungen. In bis zu fünf Sitzungen arbeiten sie mit den Teammitgliedern in Einzel- und Gruppensitzungen Geschehenes möglichst zeitnah auf. Häufig drehen sich die Gespräche um Schuld: Die Altenpflegeschülerin, die sich verantwortlich für den Tod des Bewohners fühlt. Oder die Pflegedienstleitung, die glaubt, die junge Frau im Stich gelassen zu haben. Indem Betroffene den Vorfall analysieren, sich mit ihren Teammitgliedern austauschen und ihre Gefühle zulassen und anerkennen, soll das Risiko psychischer Langzeitfolgen verringert werden. Ähnliche Methoden werden bei Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften seit Jahrzehnten erfolgreich angewendet.

PTBS muss Thema in Pflege-Ausbildungen werden

Roberto Rotondo will mit seiner Produktionsfirma „Gegenübertragung“ der Pflege eine Stimme geben. (Foto: Privat)

Georg Roth arbeitet hauptberuflich für den Kanton St. Gallen als Pflegepädagoge im Bildungsdepartement, ist aber weiterhin auf Intensivstationen der Oberschwabenklinik in Ravensburg im Einsatz. Dort leistet er mit dem Pilotprogramm „Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen“ seit 2014 Pionierarbeit: Entsprechend weiterqualifizierte Pflegekräfte bereiten mit ihren Kollegen hochstressige Situationen auf und betreuen diese im Anschluss psychosozial. Roberto Rotondo hofft, dass sich das Programm des Stress-Experten deutschlandweit durchsetzt. Und Pflegeschulen zukünftig seinen Film als Anschauungsmaterial zeigen. Denn Auszubildende seien häufig nicht darauf vorbereitet, wie emotional fordernd Pflege sein kann. „Systematisiertes Aufarbeiten von belastenden Erlebnissen muss fester Bestandteil der Ausbildung werden“, fordert der Psychologe, „Pflegekräfte müssen für das Thema sensibilisiert werden. “

Die wichtigsten Infos auf einen Blick

Laut Internationaler statistischer Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) enstehen posttraumatische Belastungsstörungen als verzögerte Reaktionen auf erschütternde Ereignisse.
Betroffene fühlen sich wie betäubt und klagen über emotionale Stumpfheit. Die Erinnerungen an die traumatische Situation hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie durchleben diese in Form von Flashbacks oder (Alb-)Träumen wieder. Im Alltag vernachlässigen Betroffene Hobbys und Dinge, die ihnen früher Spaß gemacht haben. Sie empfinden selten Freude, fühlen sich gleichgültig und teilnahmslos gegenüber ihren Mitmenschen. Häufig vermeiden sie Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Als weitere Symptome treten Übererregtheit, übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen auf. Der Krankheitsverlauf kann außerdem mit Angststörungen, Depressionen und sogar Suizidgedanken einhergehen. Die meisten Betroffenen können durch Therapie geheilt werden.

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