Kommunizieren ohne Worte

Mit Basaler Stimulation erreichen Begleiter sterbende Menschen

Dorothea Mihm bildet aus: Dank basaler Stimulation sollen die Kursteilnehmer auch ohne Worte mit Sterbenden kommunizieren können. (Foto: Dorothea Mihm)

Dorothea Mihm will Sterbenden helfen, wieder mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten. Und ihnen so ein Stück Selbstbestimmung zurückgeben. Dank basaler Stimulation kann sie auch ohne Worte mit Sterbenden kommunizieren.  Im Interview erklärt sie, warum das nichts mit Hokus Pokus, aber viel mit innerer Haltung zu tun hat.

Frau Mihm, was bedeutet Basale Stimulation?

Basale Stimulation ist ein neueres Pflegekonzept. Ursprünglich bei sehr schwer körperlich-geistig behinderten Menschen angewendet, wurde es für die Pflege modifiziert. Für mich ist es eine empathische Pflegehaltung, die zutiefst die menschliche Würde der betreuten Menschen berücksichtigt. Es ist die Kunst, mit Menschen nonverbal in Kontakt zu kommen, die in ihrer Wahrnehmung und ihrer verbalen Kommunikationsfähigkeit extrem eingeschränkt sind. Beispielsweise mit Sterbenden, schwer demente Personen, halbseitig Gelähmten, Koma- und Wachkomapatienten sowie Neugeborenen.

Was ist diesen Menschen gemeinsam?

Ihre Wahrnehmung ist eingeschränkt. Sie können sich willentlich nicht mehr bewegen, berühren und oft nicht mehr sprechen. Man kann sagen, dass sie ihr Gefühl zum Körper verloren haben. Sie spüren weder Körpergrenze, Körpertiefe, Körperlage noch Körperschwere. Damit haben sie ihre Körperidentität verloren. Das klingt wunderbar für Menschen, die sich intensiv mit Meditation beschäftigen. Für die eben beschriebenen genannten Personengruppen ist das Gegenteil der Fall. Sie fühlen sich isoliert und verlassen. Sie befindet sich im Nirgendwo und das verursacht extreme Angst.

Und mit diesen Menschen können Sie kommunizieren?

Nach meiner Erfahrung sind beispielsweise Sterbende hochsensibel und intuitiv. Ich höre auch von Pflegekräften, die mit dementen Menschen arbeiten, dass diese emotional gut erreichbar sind. Die Basale Stimulation ist eine Technik, die es erlaubt, selbst mit Hirntoten nonverbal zu kommunizieren, wenn es den Begleitern gelingt, sich von störenden Gedanken und Gefühlen zu leeren. Denn dann ist er präsent und kann sich empathisch dem Sterbenden hingeben. Das ist eine Herz-zu-Herz-Begegnung.

Seit Jahren begegne ich sterbenden Menschen, die als reaktionslos gelten. Durch die Basale Stimulation habe ich viele Menschen nonverbal erreichen können. In dem ich über ihre Sinneskanäle einen Zugang zu ihrem Geist, ihrer Seele und ihrem Verstand bekommen habe.

Für viele klingt das nach Hokuspokus.

Das höre ich auch. Allerdings ist das Konzept der Basalen Stimulation pränatal-psychologisch, neurophysiologisch und psychologisch erforscht durch Andreas Fröhlich, H. J. Hannich und Lothar Pickenstein. In den vergangenen Jahren entdeckten Forscher die sogenannten Spiegelneuronen und den somatischen Dialog. Sie glauben, dass es ein organisches Äquivalent für mitfühlendes Verstehen gibt. Das finde ich extrem interessant. Wir Menschen sind zu viel mehr fähig, als wir denken.

Wie verhalten Sie sich konkret gegenüber Sterbenden?

Viele glauben, man solle sich Sterbenden gegenüber gedämpft verhalten und sie in ihrer Ruhe möglichst wenig stören. Das sehe ich anders. Denn es ist ein Paradoxon. Während der Körper völlig entspannt ist, befindet sich der Geist in höchster Not und Angst. Eine klare innere Haltung ist wichtig. Der Kontakt beginnt in mir, in meinem Geist. Ich klopfe deutlich hörbar an die Tür. Mit normalen Schritten gehe ich zu seinem Bett und berühre den Betroffenen an der hinteren oberen Schulter.

Das müssen Sie genauer erklären.

Sterbende nehmen wie gesagt ihren Körper nicht mehr wahr, sind allerdings sehr sensibel. Wenn ich zu vorsichtig oder unsicher ans Bett gehe, ist es gut möglich, dass sie meine Unsicherheit spüren. Das könnte wiederrum einen Vertrauensbruch bedeuten. Wer mit wahrnehmungseingeschränkten Menschen zu tun hat, betritt praktisch eine andere Dimension, auf die er sich einlassen sollte. Körperkontakt ist wichtig. Aber zuerst nicht an der Hand oder Wange, sondern an der hinteren Schulter, denn oft sind die Atmung und damit die Bewegung des Brustkorbes der einzige Körperteil, an dem sich diese Menschen noch fühlen können. Deshalb sollten Begleiter dort andocken.

Fühlen sich ängstliche Menschen damit nicht überfordert?

Sollte ich eine Grenze überschritten haben, dann entschuldige ich mich bei dem Sterbenden laut. So wie ich das bei jedem anderen Menschen auch tun würde.

Warum ist dieses Pflegekonzept nicht weiter verbreitet?

Die Begleiter benötigen viel Mut, weil sie dem wahrnehmungseingeschränkten Menschen auf Augenhöhe begegnen. Das bedeutet sich nah zu kommen. Dadurch werden sie selbst verletzlich und berührbar. Das ist für viele Menschen heikel. Ehrenamtliche Hospizbegleiter sind offen für derartig nahe Begegnungen auf Augenhöhe mit Sterbenden. Dagegen tun sich professionelle Pflegekräfte eher schwer. Das Pfleger-Patient-Verhältnis ist oft hierarchisch: Du bist krank und ich weiß, was Dir gut tut.

In der basalen Stimulation sagen wir: Weil du durch Krankheit den Kontakt zu dir und der Umwelt verloren hast, helfe ich dir wieder mit dir und der Umwelt in Kontakt zu kommen. Somit kannst du für dich selbst bestimmen, was du möchtest und was nicht. Wir geben mit dieser Haltung dem wahrnehmungsbeeinträchtigten Menschen seine volle Menschenwürde zurück. Ist das nicht wunderbar?

Welche Formen der Ausbildung gibt es?

Grundlage ist ein Basiskurs, der mit 24 Stunden angeboten wird. Interessierte können danach entscheiden, ob sie das Konzept überzeugt. Ich selbst biete solche Kurse an. Wenn man sich weiter ausbilden lassen möchte, kann man die Ausbildung zum Praxisbegleiter machen.

ZUR PERSON:

Dorothea Mihm. (Foto: Privat)

Dorothea Mihm ist gelernte Palliative care-Krankenschwester, Heilpraktikerin und arbeitet seit über 20 Jahren in der Pflege mit Palliativpatienten. Die Frankfurterin lernte auf Reisen nach Asien, vornehmlich zu Lopön Tenzin Namdak Rinpoche in Nepal, neue Wege des Umgangs mit dem Sterben kennen und integriert diese in ihre Arbeit. Als Autorin (zuletzt „Die sieben Geheimnisse des guten Sterbens“), Seminarleiterin und Coach gibt sie ihr Wissen weiter.

 


Jens Gieseler ist Kommunikationsberater, Journalist und Heilpraktiker für Psychotherapie. In den letzten beiden Lebensjahren war sein Vater pflegebedürftig. Deshalb hat er sich mit der Pflegebürokratie herumschlagen müssen und viel Sensibilität für das Altern und Sterben entwickelt. Erkenntnis: Beziehungen werden immer wichtiger.