Letzte Lieder machen Tote spürbar

Stefan Weiller inszeniert einen Abend mit letzten Liedwünschen

Letzte Lieder werden auf der Bühne performt und sorgen für Nähe zu den Toten (Foto: Ralf Kopp, Marc Bartolo)

„Letzte Lieder“ heißt ein Projekt des Frankfurter Künstlers Stefan Weiller. An einem Abend lässt er verstorbene Menschen spürbar werden. Durch Lieder und vorgetragene Texte.

Herr Weiller, „Letzte Lieder“ heißt ein Projekt von Ihnen. Um was geht es?

Das ist ein zweistündiger Abend, an dem wir etwa 20 verstorbene Menschen vorstellen, in Worten und einem letzten Lied, das sie sich gewünscht haben. Der Ablauf ist künstlerisch inszeniert mit fünf Jahreszeiten, denn Leben und Sterben sind auch kein abgeschlossener Prozess.

Welche Lieder wünschen sich die Menschen?

Zunächst, der Abend ist kein Wunschkonzert in dem Sinne, dass wir eine Art „Best of …“ von der CD spielen. Sondern alle Lieder werden neu arrangiert und live gespielt. Deshalb sind zwischen 60 und 80 Musiker und Künstler im Einsatz, die sich teilweise monatelang vorbereiten. Und zwei Tage proben wir schließlich gemeinsam den Ablauf des Abends.

Und mit welchen letzten Liedern müssen Besucher nun rechnen?

Mit allem. Das geht von Kirchenliedern wie „Geh aus mein Herz und suche Freud“, über die Gralserzählung aus Wagners Lohengrin und französische Chansons bis zu Udo Lindenbergs „Stark wie zwei“. Wir haben ein Orchester dabei, ein Streichensemble oder mitunter auch eine Jazzband dabei. Die Musik, die durch ein Leitmotiv verbunden ist, ist so vielfältig wie das Leben und die Menschen. Die Besucher bekommen ein Gefühl für diese verstorbenen Menschen. Sie lachen und weinen und manchmal auch beides zusammen.

Sie tragen auch Texte vor?

Nicht ich persönlich, die Künstler sind Profis. Deshalb auch die Sprecher, wie Christoph Maria Herbst, Hansi Jochmann, die deutsche Synchronstimme von Jodie Foster oder bald auch die Tatort-Kommissarin Dagmar Manzel. Die Texte entstehen aus den letzten Gesprächen mit den Verstorbenen. Seit einigen Jahren besuche ich Menschen im Hospiz, wenn sie mich einladen und wir reden über das, was ihnen in dem Moment wichtig ist.

Sind das schwere Gespräche?

Auch. Aber ich werde nie vergessen, wie ich als Journalist über eine Frau im Hospiz schreiben sollte. Ich war sehr befangen und als ich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, schallte mir „Immer wieder sonntags“ von Cindy und Bert entgegen. Das war übrigens der Ausgangspunkt für das Projekt, denn die Begegnung mit Sterbenden lässt sich nicht in 100 Zeitungszeilen wiedergeben.

Die Gespräche sind ein Geschenk: Ich erlebe die Vielfalt des Lebens und Sterbens. Ich erinnere mich an eine krebskranke Frau, die sehr entspannt dem Tod entgegenging. Oder eine Frau, die lange psychisch krank war, einige Selbstmordversuche unternommen hatte und, als sie unheilbar an Krebs erkrankte, regelrecht froh war, endlich sterben zu dürfen. Und es gab auch einen 94-Jährigen, der noch nicht bereit war zu gehen. Es gibt im Hospiz alle Emotionen vom Lachen bis zur Wut. Und das transportieren wir mit Letzte Lieder.

Gibt es eine Quintessenz?

Ich glaube nicht und ich würde mir auch nicht anmaßen, jetzt die fünf Tipps fürs Leben zu geben. Das Sterben ist wohl nicht wirklich zu begreifen und „letzte Lieder“ erscheint uns größer als wir selbst sind. Ich erlebe in der Vielfalt, dass alles sein darf und alles gut ist. Es gibt im Leben und Sterben kein richtig oder falsch.

Was nehmen die Besucher mit?

Ich bekomme viele Zuschriften und jeder nimmt etwas anderes mit, weil ihn ein Satz besonders angesprochen hat. Was mich freut ist, dass die Besucher über das Sterben sprechen. Und auf eine besondere Art ist jeder Verstorbene an dem Abend anwesend, weil er sehr fühlbar präsent ist.

Wie finanzieren Sie das Projekt?

Die finanzielle Verantwortung liegt bei dem ausrichtenden Hospiz. Alle Künstler sind deutlich unter der üblichen Gage, oder sogar ehrenamtlich tätig, so dass – je nach Aufwand – insgesamt ein eher niedrigerer fünfstelliger Betrag zusammenkommt. Der Eintritt ist frei, aber viele spenden für das jeweilige Hospiz, das das Projekt einlädt. Und zwar offensichtlich so gut, dass Hospize diesen Abend wiederholen, in Hamburg bereits zum vierten Mal.

Stefan Weiller befasst sich mit den letzten Gesprächen vor dem Tod und schreibt diese nieder (Foto: Lena Obst)

Stefan Weiller konzipiert seit 2009 soziale und gesellschaftspolitische Kunstprojekte. Der Frankfurter Sozialpädagoge arbeitete als Journalist für verschiedene Tageszeitungen und Fachmedien, war dann Pressereferent der zunächst für die Caritas dann für die Diakonie, ehe er sich 2013 als Künstler selbstständig machte. Im kommenden Frühjahr erscheint sein Buch (“… und die Welt steht still …“ Letzte Lieder und Geschichten aus dem Hospiz) über die Gespräche mit Sterbenden.

 

 


Jens Gieseler ist Kommunikationsberater, Journalist und Heilpraktiker für Psychotherapie. In den letzten beiden Lebensjahren war sein Vater pflegebedürftig. Deshalb hat er sich mit der Pflegebürokratie herumschlagen müssen und viel Sensibilität für das Altern und Sterben entwickelt. Erkenntnis: Beziehungen werden immer wichtiger.