„Wir lassen die Pflegekräfte allein“

Viele können angesichts der Arbeitsbelastung kaum noch regenerieren

Gute Pflege leidet unter hoher Arbeitsbelastung.
Gute Pflege leidet unter hoher Arbeitsbelastung. Viele Pflegekräfte fühlen sich im Alltagsstress komplett allein gelassen. Ihr Alltag wird zur Tortur. (Foto: Fotolia)

Die Arbeits- und psychische Belastung für Pflegekräfte ist hoch. Regeneration ist notwendig, um mittelfristig nicht im totalen Frust und Burnout zu landen. Auf Grund der Rahmenbedingungen ist das für viele nicht möglich, sagt die Palliativ Care Krankenschwester Dorothea Mihm.

Frau Mihm, wie schätzen Sie die Arbeitsbelastung von Pflegekräften ein?

In der Regel sind die Pflegekräfte überbelastet. Sie haben keine reelle Chance, in der vorgegebenen Zeit und mit dem gegenwärtigen Personalschlüssel, ältere, pflegerisch abhängige Menschen würdevoll und individuell zu pflegen. Aus meiner Sicht ist unser Gesundheitssystem marode. Warum kann unser Staat nicht durch neue Gesetzgebung Pflegeheime verpflichten, ihren Personalschlüssel mit ausgebildetem Pflegepersonal aufzustocken? Alte Menschen haben es verdient, eine gute Lebensendzeit zu erfahren. Darüber bin ich immer wieder traurig und richtig sauer.

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Ich habe mehr als 20 Jahre in palliativen Einrichtungen gearbeitet. Selbst dort erlebte ich unwürdiges Sterben. Als Kursleiterin für Basale Stimulation habe ich in vielen Pflegeheimen Alltagsbegleiter ausgebildet. Dort entdeckte ich unzumutbare Situationen wie mit hilfsbedürftigen Menschen umgegangen wurde. Ihr Körper war intakt, aber ihre Seele verrottete. Jetzt als Bestatterin komme ich in andere Pflegeheime, um Verstorbene abzuholen. Was ich dort, durch unsachgemäßer Pflege verursacht, vorfinde ist nicht nur entwürdigend für die Bewohner, es ist ehrlich gesagt, ekelhaft. In unserem Bestattungshaus wasche ich ihre verwahrlosten und geschundenen Körper.

Warum versagen Pflegekräfte?

Es sind nicht die Pflegekräfte, sondern die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsbelastung. Wir haben eine sehr gute dreijährige Ausbildung für Altenpfleger. Die gehen hochmotiviert in ihren Job und müssen feststellen, dass sie das, was sie an wirklicher Pflege gelernt haben, im Berufsleben nicht umsetzen können. Stattdessen müssen sie sich um Medikamentierung und Dokumentation kümmern. Das ist frustrierend und lässt die Fachkräfte innerlich ausbluten. Es sind die so genannten Pflegehelfer, die eine sechswöchige Schnellbleiche erfahren haben, die die Bewohner versorgen. Eigentlich sollten sie die examinierten Kollegen und Kolleginnen unterstützen und nicht deren Arbeit machen. Nochmals: Der Grund dieser pflegerischen Unterlassungen liegt nicht am Wollen meiner Kolleginnen. Es ist eine deutschlandweite traurige Tatsache, dass Pflegeheime an examiniertem Personal sparen – meistens um sich persönlich zu bereichern.

Ist das nur Ihre Beobachtung?

In ihrem Buch „Gewalt in der Pflege“ beschreiben die Pflegewissenschaftler Jürgen Osterbrink und Franziska Andratsch wie die dauerhafte Arbeitsüberbelastung schrittweise zur Gewalt führt. Das fängt damit an, dass die Bewohner nicht regelmäßig versorgt werden, geht über sarkastische Bemerkungen bis zu körperlicher Gewalt. Die Einrichtungsleitungen erfüllen oft nicht die Fürsorgepflicht gegenüber ihren Pflegekräften und Bewohnern.

Die Leitung steht selbst unter dem Druck gesetzlicher Vorgaben, oder?

Lassen Sie mich vorher noch sagen, dass unsere Gesellschaft den Beruf der Altenpflege nicht wertschätzt. Weder gibt es menschliche Anerkennung noch ein zufriedenstellendes Gehalt. Das führt dazu, dass einige Pflegekräfte noch einen Zweitjob machen müssen, um über die Runden zu kommen. Oft sind es alleinerziehende Mütter. Hinzu müssen sie sich noch um Haushalt und Kinder kümmern. Da ist keine Luft mehr für etwas anderes. Wie sollen diese Kolleginnen sich noch wirklich um sich selbst kümmern? Wir lassen die Pflegekräfte allein.

Auch die Leitung?

Ihre Angestellten arbeiten oft am Limit. Ich kann offen gestanden nicht beurteilen, unter welchem Druck sich die Leitung in ihrer Sandwichposition befindet. Ist es Unachtsamkeit, oder tatsächlich die Vorgaben von deren Investoren.

Was können Pflegekräfte selbst tun, um aus dem Teufelskreis auszusteigen?

Bei den Hochbelasteten ist es eigentlich ein Hohn über Regeneration zu sprechen, denn in deren Leben bleibt dafür keine Zeit. Natürlich ist es wichtig, dass sich jeder fragt: Was tut meiner Seele gut? Wo ist meine Kraftquelle, die mich wieder auftanken lässt? Es hilft nicht, pauschale Tipps zu geben oder neuen Anti-Stress-Moden zu folgen. Der eine geht mit seinem Hund in die Natur, der andere macht Krafttraining im Fitness-Studio. Der eine engagiert sich ehrenamtlich im Verein oder der Flüchtlingsarbeit, der andere macht Yoga oder Meditation.

Was hat Ihnen in den Jahren geholfen?

Ich nehme mir jährlich Zeit für Therapie, um wirklich seelisch heil zu bleiben. Täglich meditiere ich, gehe mit meinem Hund lange spazieren und treibe Sport. Seit ein paar Wochen habe ich den Kontakt-Improvisations-Tanz entdeckt. Das sind meine persönlichen Kraftquellen. Außerdem hat mir die Ausbildung zur Kursleiterin für Basale Stimulation in der Pflege viele Türen geöffnet und meiner Tätigkeit als Pflegekraft viel mehr Sinn gegeben. Ich konnte plötzlich mit Menschen, die sich nicht mehr bewegen, selbst berühren und sprechen können, non-verbal kommunizieren. Eine völlig neue Begegnungsform mit den Wachkomapatienten. Diese Herz-zu-Herz-Begegnungen geben mir noch heute unglaublich viel.

Dorothea Mihm ist Palliative care Krankenschwester, Heilpraktikerin in eigener Praxis und Praxisanleiterin für basale Stimulation sowie Autorin: „Mit dem Sterben leben“, „Die sieben Geheimnisse guten Sterbens“ und „Anleitung zum guten Sterben“.  

 

 

 


Jens Gieseler ist Kommunikationsberater, Journalist und Heilpraktiker für Psychotherapie. In den letzten beiden Lebensjahren war sein Vater pflegebedürftig. Deshalb hat er sich mit der Pflegebürokratie herumschlagen müssen und viel Sensibilität für das Altern und Sterben entwickelt. Erkenntnis: Beziehungen werden immer wichtiger.