Tote ohne Angehörige werden vom Staat entsorgt

Interview mit Francis Seeck über ordnungsbehördliche Bestattungen

Massenabfertigung: Herrenlose Urnengräber zieren den Boden staatlicher Bestattungsinstitute – würdevoll sieht anders aus. (Foto: Privat)

Wenn sich innerhalb von sieben Tagen keine Angehörigen finden, werden Tote unter unwürdigen Bedingungen beerdigt, sagt Francis Seeck. Die Berliner Kulturanthropologin fordert von der Gesellschaft mehr Geduld und Achtung gegenüber Menschen, die „am Rand“ stehen.

Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel „Recht auf Trauer“. Um was geht es darin?

Francis Seeck ist eine Berliner Kulturanthropologin und kämpft für würdevolle Bestattungen von Randgruppen (Foto: Privat)

FRANCIS SEECK: Wie wir in Deutschland Menschen bestatten, ist ein Abbild unserer Gesellschaft. Ich habe mich vor allem um die sogenannte ordnungsbehördliche und Sozialbestattung gekümmert. Das sind unwürdige bürokratische Vorgänge.

Was meinen Sie damit?

Die ordnungsbehördliche Bestattung betrifft vor allem alleinwohnende oder obdachlose Menschen, die keine Bestattungsvorsorgeversicherung abgeschlossen haben. Wenn innerhalb von sieben Tagen keine Angehörigen gefunden werden, übernimmt die öffentliche Hand die Beerdigung, die dann effizient und kostengünstig abgewickelt wird. Das bedeutet beispielsweise, dass fünf Urnen im Minutentakt unter die Erde gebracht werden.

Ist das nicht nachvollziehbar, wenn es keine Angehörigen gibt?

Das Problem ist, dass nicht intensiv nach ihnen gesucht wird. Zunächst geht die Polizei in aller Regel lediglich kurz durch die Wohnung. Da kann selbst eine Bestattungsvorsorgeversicherung und damit eine würdigere Beerdigung übersehen werden. Hinweise auf Verwandte und Freunde sind auch nicht immer offensichtlich. Dazu sind sieben Tage eine zu kurze Zeit. Als mein Vater starb, war ich im Ausland und nicht so schnell erreichbar. Ich wurde erst drei Monate später über die anonyme ordnungsbehördliche Beerdigung meines Vaters informiert. Ich fühle mich um das Recht auf Trauer betrogen. So geht es vielen Menschen.

Können Sie das beziffern?

Bestattungsinstitut gleicht einem Hinterhof einer verlassenen Fabrik
Trostlos und entwürdigend endet für mehr als 20.000 Menschen im Jahr das Leben in staatlichen Bestattungsinstituten (Foto: Privat)

Es gibt wenig verlässliche Zahlen, da etwa in Berlin die Bezirke zuständig sind. Auf Grund der Recherchen für meine Master-Arbeit an der Humboldt-Universität schätzte ich, dass es allein in Berlin zwischen 2000 und 3000 ordnungsbehördliche Bestattungen gibt. 2015 übernahmen die Behörden bundesweit für mehr als 23.000 Beerdigungen eine Kostenerstattung. Wenn man davon ausgeht, dass Altersarmut zunimmt, werden die Zahlen künftig sicher steigen. Ich habe viele Interviews mit Betroffenen geführt, die alle beschrieben, dass sie regelrecht unter Schock standen. Der Tod eines Angehörigen oder Freundes trifft jeden Menschen. Doch das Ritual der Beerdigung, die Chance sich dafür Zeit zu nehmen, die Beerdigung zu gestalten oder mit anderen Menschen zu sprechen, ermöglicht zu trauern. Es schenkt auch dem Toten Würde.

Wie könnte das bei der ordnungsbehördlichen Bestattung aussehen?

In einer Studie der BAG Wohnungslosenhilfe geben lediglich elf Prozent der männlichen Wohnungslosen an, dass sie keine sozialen Kontakte haben, bei Frauen sind es nur vier Prozent. Also beinahe jeder Tote hat auch am Ende seines Lebens Kontakt zu anderen Menschen, im Haus, in der Kirchengemeinde oder in einem Verein. In meinen Gesprächen habe ich gehört, dass manche gerne die Kosten übernommen hätten für eine Kapelle oder Blumenschmuck – eben einen würdigen Abschied. Ich bin der Meinung, dass auch bei einer ordnungsbehördlichen Bestattung die Gesellschaft das Leben und die Leistungen des Verstorbenen anerkennen sollte. Zunächst benötigen die Behörden mehr Zeit, um Angehörige oder Freunde zu suchen. Dann wäre es wichtig, dass die Mitarbeiter im Umgang mit den Menschen emotional geschult werden. Viele Betroffene, die sich noch vor der Beerdigung gemeldet haben, erzählten mir, dass sie eine große Beharrlichkeit benötigten, um die bürokratische Maschinerie zu stoppen oder zu verändern.

Wie haben Sie selbst den Tod Ihres Vaters verarbeitet?

In meinem Studium als Kulturanthropologin habe ich mich viel mit dem Tod und Beerdigungsriten auseinandergesetzt. Der Schock war damals auch so groß, weil der Nachlassverwalter sämtliche Unterlagen meines Vaters vernichten ließ, Texte, Gedichte und Bilder. Es blieb praktisch nichts übrig von meinem Vater. Über  alte Freunde von ihm habe ich wieder Erinnerungsstücke gesammelt und wir treffen uns jährlich zu einer Feier.

Das Buch:

 

 

Francis Seeck: Recht auf Trauer Bestattungen aus machtkritischer Perspektive, 112 Seiten, 9.80 EUR, erscheint im Mai 2017

 

 


Jens Gieseler ist Kommunikationsberater, Journalist und Heilpraktiker für Psychotherapie. In den letzten beiden Lebensjahren war sein Vater pflegebedürftig. Deshalb hat er sich mit der Pflegebürokratie herumschlagen müssen und viel Sensibilität für das Altern und Sterben entwickelt. Erkenntnis: Beziehungen werden immer wichtiger.