Pädagogen in die Psychiatrie

Ein Kommentar von Simon Büngener

Kürzlich hat ein Reporter-Team um Günter Wallraff erschreckende Zustände in deutschen Psychiatrien aufgedeckt. Um solchen Missständen erfolgreich zu begegnen, muss sich das System verändern. Ein wichtiger Baustein kann der vermehrte Einsatz von Pädagogen auf Station sein.

Psychiatrien sind Krankenhäuser

Psychiatrien in Deutschland verstehen sich als Krankenhäuser und dort haben Pädagogen nichts zu suchen. Obwohl die Ausbildungsinhalte Schnittmengen mit der von Therapeuten aufweisen, sind auf Station fast ausschließlich Pflegefachpersonen zu finden. Nur wenige Private Psychiatrien schmücken sich mit Pädagogen im Stationsdienst.

Gezielte Fremdbeobachtung nötig

Auffälliges Verhalten von Patienten wird im Alltag häufig nicht erkannt und nur im Therapiegespräch thematisiert. Was bedeutet es, wenn ein Patient nur bestimmte Wege im Flur ablaufen kann? Oder warum benötigt er 30 Minuten, um eine Jacke anzuziehen? Der Patient kann in der Therapie zwar sagen, dass sich seine Zwangsgedanken verbessern. Aber wer überprüft ob sie es wirklich tun? Der Therapeut erlebt den Patienten nicht in Alltagssituationen und muss ihm glauben. Er ist auf gezielte Fremdbeobachtung angewiesen. Ein Bereich für den insbesondere Pädagogen ausgebildet sind.

Pädagogische Kompetenz gefragt

Ähnliches gilt für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Man findet sie vor allem in Kinder- und Jugendpsychiatrien wieder und der pädagogische Bedarf ist größer, als der therapeutische. Zwar kann man das Kind mit Tabletten ruhigstellen, doch angemessene Verhaltensweisen erlernen heißt: Verstärkerpläne einsetzen, Konflikte nachhaltig schlichten und den Eltern erklären, wie sie ihr Kind im Alltag begleiten können. Hier ist pädagogische statt pflegerischer Kompetenz gefragt. Wenn sich trotzdem eine Pflegefachperson an diese Störung herantraut, arbeitet sie mit gefährlichem Halbwissen und kann die Genesung behindern. Manche Psychiatrien sind so stur, dass Kinder mit ADHS nicht aufgenommen werden. In einer Regelgruppe sind sie nicht führbar und belästigen die anderen Patienten. Zwar gibt es Einrichtungen, die sich auf diese Krankheit spezialisiert haben, doch die Diagnose wird immer häufiger gestellt und der Bedarf ist größer als das Angebot.

Krankenschwestern können das nicht leisten

Oberärztin Angelika Rieck von der BetaGenese Klinik bestätigt, dass Pädagogen in der Psychiatrie gebraucht werden. Empathische Beziehungsarbeit sei wichtig, damit Kinder und Jugendliche Vertrauen fassen können. “Die Pädagogik ist eine über Jahrhunderte gewachsene Wissenschaft, die man mit bloßem Menschenverstand nicht ersetzen kann. Das können Krankenschwestern nicht leisten, weil sie sich auf ihre medizinischen Tätigkeiten konzentrieren müssen,” so Rieck weiter. Warum Pädagogen im Stationsdienst trotzdem eine untergeordnete Rolle spielen? Christoph Florange, Geschäftsführer der Klinik Wersbach kennt die Antwort: „Es ist eine interne Organisation dafür verantwortlich, in der die Krankenschwestern mehr für den medizinischen Teil verantwortlich sind und die Pädagogen den Sozialdienst abdecken.“

Seite an Seite mit der Pflege

Psychiatrien entziehen sich pädagogischen Einflüssen also nicht grundsätzlich. Wer entsprechendes Personal aber nur punktuell einsetzt, läuft Gefahr, pädagogisch überforderte Pflegefachpersonen in Krisensituationen allein zu lassen. Um dem vorzubeugen, sollten Pädagogen im multiprofessionellen Team Seite an Seite mit der Pflege arbeiten. So ist gewährleistet, dass Menschen mit psychischen Krankheiten ganzheitlich versorgt werden.