Musikprojekt: Wenn Junge die Alten zum Tanzen bringen

„Unter 7 über 70“ macht Kindern und Pflegebedürftigen Spaß

Alt und Jung reichen sich die Hände und haben Spaß (Foto: Maria-Martha-Stift Lindau)

„Wer will heute mit ins Maria-Martha-Stift?“, ruft Erzieherin Susanne Bruderhofer in die morgendliche Kindergartenrunde. Elf Knirpse zwischen drei und sechs strecken schnell die Hände nach oben: „Ich! Ich muss Oma Irma von meinem Baby-Kaninchen erzählen!“

Jeder wird beim Vornamen gerufen

Als die bunte Truppe aus dem Kinderhaus St. Stephan eintrifft, warten schon zwölf über 80-Jährige gespannt im Gemeinschaftsraum des Lindauer Pflegeheims. Denn dort tanzen, musizieren und lachen sie jeden Donnerstagvormittag mit ihren kleinen Gästen. Los geht’s mit einem Begrüßungslied, das jeden einzeln beim Vornamen nennt. „Das ist schon ein Stück Erinnerungsarbeit für unsere Bewohner“, weiß Einrichtungsleiterin Anke Franke. Viele der Älteren würden kaum noch beim Rufnamen angesprochen. Im Alltag seien sie Frau Müller, Mama und Omi. Wenn sich donnerstags alle freuen, dass Hildegard da ist, gebe es einen Aha-Effekt: Das bin ja ich.

Aktivierung: Freude der Kleinen steckt an

Alt und Jung reichen sich die Hände und haben Spaß (Foto: Maria-Martha-Stift Lindau)

Später bei Brüderchen komm tanz‘ mit mir reicht die fünfjährige Anna* dem 82-jährigen Otto Müller* die Hände und lächelt ihn an. Als es heißt „einmal hin, einmal her, rundherum das ist nicht schwer“ tanzt das Mädchen um den Stuhl des Demenzkranken herum. „Selbst diejenigen, die sonst schwer zu erreichen sind, strahlen dabei übers ganze Gesicht“, erzählt Franke. Zusätzlich ließen sich die Pflegebedürftigen von der Energie der Kleinen anstecken. Sie bewegen sich mehr, sind aktiver als an anderen Tagen.

„Senioren gehören IN die Gesellschaft“

Auch deshalb unterstützt das diakoniebetreute Haus in Lindau Projekte mit Jugendlichen und Kindern. Die Heimleiterin: „Senioren gehören schließlich zur Gesellschaft und müssen nicht unter sich bleiben.“ Und nicht nur Heimbewohner profitieren von den Besuchen. „Es entstehen richtige Beziehungen“, freut sich die 46-Jährige. Beim Lindauer Kinderumzug etwa rufen die Kleinen ihren „Opi-Freunden“ zu und jubeln, wenn diese zurück winken. Erzählen die Zwerge von Weihnachtsgeschenken, erklären die Älteren, dass ein Fußball vor 50 Jahren nicht mit Luft gefüllt war, sondern alten Lumpen. Große Augen und offene Münder inklusive.

Kontakte zu anderen Generationen wichtig

Seit vier Jahren arbeitet die Diakonie-Einrichtung nach der Eden-Alternative. Eine Betreuungsphilosophie, die ausdrückt, dass die Hauptleiden des Alters durch Einsamkeit, Langeweile und sich nutzlos fühlen entstehen. „Alte oder kranke Menschen haben das gleiche Bedürfnis nach Nähe und Gemeinschaft wie wir anderen“, sagt Expertin Franke. Die Kinderbesuche sind Teil eines breitgefächerten Freizeitangebots, das gezielt generationsübergreifenden Kontakt zu Menschen außerhalb des Pflegeumfelds herstellt.

Altenpfleger und Erzieher kooperieren

Von dem Konzept „Unter 7 über 70“ erfuhr das Leitungsteam durch einen Flyer für Fortbildungsangebote. Im selben Jahr machte das erste Altenpfleger-Erzieher-Paar eine zweitägige musikpädagogische Schulung an der Musikhochschule Trossingen. Dort lernten die beiden Frauen, wie gemeinsames Musizieren Kontakte zwischen Kindern und Senioren fördert und erleichtert. Damit der Donnerstagsrabatz stattfinden kann, wenn einer der Koordinatoren krank oder nicht eingeteilt ist, wurde im folgenden Jahr ein zweites Paar geschult.

Schon abends auf nächstes Mal freuen

Nach einer Stunde ist der Trubel vorbei. Wie viel Spaß die ungleichen Musik-Teams hatten, lässt sich an den roten Wangen und lachenden Gesichtern ablesen. „Den ganzen Nachmittag schwärmen die Bewohner von der Musikstunde“, berichtet Franke, „und fiebern der nächsten Woche entgegen.“

*Namen von der Redaktion geändert

Eden-Alternative
Das in den USA entwickelte Betreuungskonzept besagt, dass die Hauptleiden des Alters durch soziale Isolation entstehen. Eine krankenhausähnliche Situation in Pflegeheimen ruft Langeweile, Einsamkeit und das Gefühl nutzlos zu sein hervor. Für Häuser, die nach der Eden-Alternative arbeiten, steht die Fürsorge für Bewohner und Mitarbeiter im Vordergrund. Es wird ein Arbeits- und Wohnumfeld geschaffen, das sich an Bedürfnissen wie Geselligkeit, Spontanität und Nähe orientiert. Ziel ist es, dass Einrichtungen offener werden. Menschen aller Altersgruppen, Tiere und Gemeindemitglieder sollen ein- und ausgehen. Wie das bei einer großen Familie selbstverständlich ist. Mehr zum Konzept