„Wir lassen Sterbende allein“

Dorothea Mihm unterstützt Menschen, die bewusst sterben wollen

Sterbende bewältigen den Tod leichter, wenn sie an etwas Größeres glauben. Dorothea Mihm begleitet sie auf ihrem Weg. Das Foto entstand mit Einverständnis des Sterbenden. (Foto: Privat)

Sterben Menschen, bedeutet das auch eine hohe psychische Belastung für die Begleitenden. Die buddhistische Sterbebegleiterin Dorothea Mihm spricht im Interview über Spiritualität, Sterbephasen und die notwendige Klärung für das betreuende Personal.

Frau Mihm, Sie wollten ein buddhistisches Hospiz gründen. Was wäre dort anders gewesen als üblich?

Wir hätten ein besonderes Augenmerk auf die pflegerischen Mitarbeiter gerichtet. Etwa hätten die Mitarbeiter einen eigenen Rückzugsraum für sich gehabt oder einen Sandsack, um mögliche Aggressionen abzubauen.

Besonders die spirituelle Praxis wäre uns wichtig gewesen. Wir hatten vor, sowohl die ehrenamtlichen Mitarbeiter als auch die angestellten Pflegekräfte in den Grundlagen der fünf großen Religionen und deren Ritualen zu schulen.

Und warum das?

Sterbende Menschen bewältigen den Übergang in den Tod leichter, wenn sie an etwas Größeres glauben. Die religiöse Ausrichtung spielt dabei überhaupt keine Rolle. Wenn keine Angehörigen anwesend sind, aber die Begleiter Grundlagen kennen, können sie Sterbende viel besser unterstützen. Das ist meine Erfahrung seit beinahe 30 Jahren – zunächst auf Intensivstationen, auf einer Palliativstation und in einem Hospiz, sowie im Deutschen Hospiz- und Palliativverband. Eine gute Begleitung unterstützt die Sterbenden in ihrem Glauben mit Mitgefühl, Empathie und Intuition.

Das klingt einfach und leicht. Doch sieht es in der Praxis nicht oft anders aus?

Sterbebegleiter und Pflegekräfte gehen zunächst sehr offen und engagiert an die Arbeit. Sie geben alles. Doch nach drei bis vier Jahren bröckelt es. Sie gießen sich aus, weil wir in unserer Kultur nicht gelernt haben, auf uns zu achten. Das bedeutet mehr als Psychohygiene und ist innere Seelenarbeit. Denn nur wenn es mir als Person gut geht, kann ich wirklich aus dem Herzen geben. Kommen wir selbst in Not, dann handeln wir weniger reflektiert.

Ist es nicht verständlich, dass Erlebtes Sterbebegleiter zutiefst berührt? Egal, ob es mit fühlender Schmerz oder die eigene Angst vorm Tod ist. Wie schaffen Sie es, sich zu klären?

Ich ziehe mich jeden Tag für eine halbe oder ganze Stunde zurück und beobachte meinen Geist. Was beschäftigt mich heute? Dann betrachte ich das Schicksal aus Patientensicht und fühle mich ein. Was berührt mich negativ im Umgang mit ihm und was macht es mir schwer? Letztlich spiegelt mir ein Patient nur meinen Schmerz, meinen Schatten oder mein Unbewusstes. Dann beginnt ein Heilungsprozess, denn ich begegne mir mit liebender Güte. Diese heilende Methode gibt mir Kraft, jeden Tag neu Sterbenden zu begegnen. Und wenn ich es allein nicht hinbekomme, hole ich mir therapeutische Hilfe.

Ist Supervision für Sterbebegleiter nicht verpflichtend?

Das tun nur wenige. Wenn man etwa zwölf Tage Dienst hatte, geht man nicht in Supervision, sondern will nur noch seine Ruhe haben. In unserem Hospiz-Konzept hätten wir den Dienst mit einer viertelstündigen Meditation begonnen. Es ist tatsächlich auch eine Frage der Zeit. Deshalb hätten die Mitarbeiter lediglich 90 Prozent der üblichen Arbeit getan, aber 110 Prozent des üblichen Gehaltes bekommen. Für dieses Hospiz gab es nämlich einen Sponsor, der das ermöglicht hätte.

Woran ist das Hospiz denn gescheitert?

Die Stadt Bad Soden hatte uns ein Grundstück in Erbpacht versprochen. Die Bagger standen praktisch schon bereit. Aber der Stadtrat hat sechs Tage vor Vertragsabschluss auf Druck der christlichen Kirchen seine Zusage zurückgezogen. Es gab eine Pressekonferenz, zu der ich nicht eingeladen wurde. Das war für mich damals sehr schmerzhaft, nicht nur die Art der Absage, denn die gesamte Planung mit Verein, Konzept und Bauplanung hat sehr viel Kraft gekostet. Es war für mich mein Herzblut, das gescheitert ist.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Tatsächlich habe ich einige Monate gebraucht, um das Projekt auch innerlich zu verabschieden. Inzwischen schreibe ich Bücher über bewusstes Sterben und das Konzepte der Basalen Stimulation und halte Seminare.

Was bedeutet bewusstes Sterben?

Der Tod ist ein Teil unseres Lebens. Wir sind in unserer Kultur sehr körperorientiert und beachten deshalb die seelischen Prozesse beim Sterben zu wenig. Ich persönlich bin der Auffassung, dass wie im Tibetanischen Totenbuch beschrieben, der Geist des Verstorbenen so wiedergeboren wird, wie sie stirbt. Stirbt ein Mensch in einem unruhigen Geisteszustand, ist er getrübt von negativen Gefühlen, Gedanken oder wird er durch starke Beruhigungsmittel völlig sediert, dann ist das laut des tibetischen Totenbuchs kein friedvoller Tod. Ich selbst möchte so bewusst sterben, wie es mir möglich ist. Und ich möchte das Sterbenden ermöglichen, die auch diesen Wunsch haben.

Das ist in klassischen Einrichtungen nicht möglich?

Das ist sehr unterschiedlich. Die Menschen setzen sich mehr mit dem Sterben und dem Tod auseinander, als dies vor 20 Jahren der Fall war. Aber unsere Gesellschaft hat immer noch einen blinden Fleck, wenn es darum geht, wie wir mit Sterbenden umgehen und wie wir die aktive Sterbephase begleiten.

Es gibt wenig Wissen und Verständnis für die unterschiedlichen Sterbephasen. So werden Sterbende oft mit Medikamenten ruhig und schlafend gelegt. Dass Betreuungskräfte den Schmerz reduzieren wollen ist gut. Es ist die Kunst der Palliativ-Medizin, dass Sterbende schmerzarm und frei sein können ohne das Bewusstsein zu verlieren. Wenn der Körper im Sterbeprozess dann bewegungslos wird, nehmen Begleiter oft Abstand, in der guten Absicht, jemand in Ruhe sterben zu lassen. Aber genau in dieser Phase fühlt sich der Sterbende unfassbar allein. Die Seele geht durch den größten Schmerz, ist mit Angst, Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit konfrontiert. Jetzt benötigt der Mensch die höchste Präsenz und eine professionelle Berührung durch Sterbebegleiter.


ZUR PERSON:

Dorothea Mihm (Foto: Privat)

Dorothea Mihm ist gelernte Palliative care-Krankenschwester, Heilpraktikerin und arbeitet seit über 20 Jahren in der Pflege mit Palliativpatienten. Die Frankfurterin lernte auf Reisen nach Asien, vornehmlich zu Lopön Tenzin Namdak Rinpoche in Nepal, neue Wege des Umgangs mit dem Sterben kennen und integriert diese in ihre Arbeit. Als Autorin (zuletzt „Die sieben Geheimnisse des guten Sterbens“), Seminarleiterin und Coach gibt sie ihr Wissen weiter.