#Pflexit: Raus aus der Pflegehölle

Auf Twitter tauschen sich Pflegekräfte über den Berufswechsel aus

Für viele Pflegende ist der Pflexit der einzige Ausweg.
Katastrophale Arbeitsbedingungen führen dazu, dass Pflegekräfte das Berufsfeld wechseln. (Foto: Fotolia)

„Ich mache die Bewohner fertig. Ich mache mich selbst fertig. Aber ich helfe niemandem mehr.“ – Mit dieser Erkenntnis beschloss Daniel Müller zu kündigen und den Pflexit zu vollziehen. Zehn Jahre hat der gelernte Fachinformatiker als Pflegehelfer gearbeitet. Jetzt steigt der 30-Jährige aus. Der Grund: Katastrophale Arbeitsbedingungen in der Pflege.

Müller ist kein Einzelfall. In dem sozialen Netzwerk Twitter versammeln sich unter dem Hashtag Pflexit all jene, die die Pflege verlassen haben. Den Ausstieg planen. Oder einfach davon träumen, die Pflege hinter sich zulassen. Der Hashtag dient auch als Echokammer. Im Zirkel Gleichgesinnter machen die Pflegekräfte ihrem Unmut mit großer Offenheit Luft. Sie fordern bessere Bezahlung, mehr Personal und eine mitarbeiterfreundlichere Dienstplangestaltung. Unbemerkt von der Außenwelt.

Echokammer für desillusionierte Idealisten

Mörderische Schichten. Personalmangel. Stress. Überstunden. Das Gezwitscher der Pflegekräfte offenbart schockierende Einblicke in den Pflegealltag. Aus den Statusmeldungen spricht offene Enttäuschung, Verzweiflung und Verbitterung. Der Hashtag Pflexit dient als Sammelpunkt für desillusionierte Idealisten unter den Pflegenden. In jedem Tweet schwingt unterschwellig eine Frage mit: „Wann ändert sich endlich etwas in der Pflege?“

Arbeitnehmerrechte in der Pflege einfordern

Müller wollte nicht tatenlos zuschauen. Also setzte er sich dafür ein, Arbeitsbedingungen zu verbessern. Vor drei Jahren trat er der Freien Arbeiterinnen und Arbeiter Union (FAU) bei, einer basisdemokratischen Gewerkschaft. Er informierte sich über Arbeitnehmerrechte und suchte das Gespräch mit seinen Vorgesetzten.

Konkrete Vorschläge für bessere Pflege

„Ich habe vorgeschlagen den Lohns um fiktive 150 Euro zu erhöhen, die als Sonderzahlung deklariert werden können“, berichtet der Pflegeaussteiger. Der Plan: Wird jemand krank, werden ihm zehn Euro abgezogen. Die bekommt dann derjenige, der einspringt. So gibt es weniger Krankenstand, weil die Leute nicht aus bloßem Frust zum Arzt gehen. Und einen Anreiz, für kranke Kollegen einzuspringen.

Müller plädierte außerdem für mehr Weiterbildung. Beim Essen anreichen wurde er Zeuge grenzwertiger Situationen. Deshalb forderte der Leipziger praktische Trainings. Auf denen sollten Pflegekräfte am eigenen Leib erleben, wie sich Pflege im schlimmsten Fall anfühlt: Flach im Bett zu liegen und jemand zwingt dich 200 Milliliter Flüssigkeit zu trinken. Oder steckt dir ein Löffel in den Mund, obwohl du noch kaust. Vorgesetzte hätten dabei lernen können, wie lange Essen anreichen dauern kann. Und dass starre Zeitpläne in der Pflege unmenschlich sind.

Pflexit als letzter Ausweg

Trotz konkreter Vorschläge lautete die Standardantwort aus der Chefetage: „Da kann ich nichts machen“. Daher verlässt Müller die Pflege schweren Herzens. „Wenn ich genug Zeit für die Bewohner gehabt hätte“, zeigt sich der Ex-Pfleger überzeugt, „würde ich heute noch in der Pflege arbeiten. Unter anderen Arbeitsbedingungen ist Pflege ein schöner Beruf.“

Vor seiner Kündigung musste der Leipziger sich nicht selten allein vor dem Frühstück intensiv um sechs bis sieben Bewohner kümmern. Das bedeutet: innerhalb von zwei Stunden sechs bis sieben Menschen mit individuellen Bedürfnissen aus dem Bett holen, waschen und anziehen. „Die Qualität meiner Arbeit hat unter dem Zeitdruck gelitten. Ich habe gemerkt, wie mein Stress Menschen mit Demenz in Unruhe versetzt hat“, gibt der ehemalige Pflegehelfer zu. In seiner Stimme liegt echtes Bedauern.

Schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Pflege

Er erlebte, wie sich schlechte Arbeitsbedingungen negativ auf alle Bereiche der Pflege auswirken. Das Arbeitsklima verschlechterte sich zunehmend. Viele von Müllers Kollegen resignierten und stumpften ab. Immer wieder führten Frust und Stress zu Kurzschlussreaktionen. Genervte Pflegekräfte reagierten sich an ihren Arbeitskollegen ab. Teilweise richteten sich die Wutausbrüche sogar gegen Bewohner. „Ich will dieses Verhalten auf keinen Fall entschuldigen“, erklärt Müller, „aber viele Pflegekräfte stehen unter immensem Druck. Das macht auf Dauer jeden fertig“. Am Ende steht häufig der Pflexit.

Pflegeschlüssel als Mindeststandard

Der Ex-Pfleger erhebt schwere Vorwürfe gegen Träger und Einrichtungsleitungen: „Die Heime ruhen sich auf dem Pflegeschlüssel aus. Aber das ist ein Mindeststandard. Die katastrophalen Folgen des Personalmangels für Bewohner und Pflegepersonal werden ignoriert“. Den Unternehmen ginge es nur noch um Gewinnmaximierung. Qualitätssicherung stehe hinten an. „Der selbstauferlegte Ehrenkodex, den viele Einrichtungen vor sich hertragen, ist reine Augenwischerei.“

Neuanfang durch Pflexit

Seit Anfang des Jahres ist der 30-Jährige  durch den Pflexit arbeitslos. „In Leipzig sind die Leute froh, wenn sie überhaupt Arbeit haben“, berichtet Müller, „aber ich will dieses System nicht weiter unterstützen.“ Sein Ziel ist die Selbstständigkeit. In seiner kleinen Werkstatt will er Möbel herstellen. Für die Pflege wünscht er sich, „dass die Unternehmen anfangen umzudenken und anfangen, aktive Qualitätssicherung durch mehr Personal zu betreiben.“

Der Pflexit ist ihm geglückt. Trotzdem will sich der Gewerkschafter weiterhin dafür einsetzen, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zuverbessern: „Pflege muss sich organisieren, austauschen und sich ihrer Rechte bewusst werden.“ Twitter kann da ein nützliches Hilfsmittel sein.