Schlechtes Gewissen ade

Pflegende Angehörige sollten sich von Schuldgefühlen befreien

Wer seine Angehörigen ins Pflegeheim geben will, sollte sich vom schlechten Gewissen befreien. (Foto: Fotolia)

Petra Gscheitle aus Stuttgart hat es schwer: Neben der Arbeit kümmert sie sich um ihre pflegebedürftige Mutter. Nachdem die eigenen Kinder aus dem Haus waren, wollte sie beruflich durchstarten. Doch seit einem halben Jahr arbeitet sie schon wieder Teilzeit, um alles zu schaffen. Und das auch noch mit schlechtem Gewissen.

„Ich habe deinen Vater auch bis zum Ende gepflegt – da musste ich auf viel verzichten.“ Diesen Satz hört die 49-jährige Bürokauffrau fast jede Woche von ihrer Mutter. Ein k.o.-Argument. Sie traut sich kaum zu sagen, dass sie nicht mehr zurecht kommt mit der Doppelbelastung von Beruf und Versorgung ihrer Mutter in deren Haushalt. Ihr Hausarzt, bei dem sie in letzter Zeit immer öfter ist, hat Petra Gscheitle dringend Entlastung und eine Kur angeraten. Sie leidet unter Schlafstörungen und schleppt sich lust- und kraftlos durch den Tag. Alles ist ihr zu viel und am Arbeitsplatz macht sie Fehler.

Gesunden Egoismus entwickeln

„Vor allem Frauen fällt es schwer, hier einen gesunden Egoismus zu entwickeln“, beobachtet Cornelia Spangler, Geschäftsführerin des Coachingunternehmens roots & wings. Sie rät, sich mit den tieferen Ursachen der Hemmschwelle auseinanderzusetzen. „Es ist wichtig, auch die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, pflegebedürftige Angehörige im Heim versorgen zu lassen, dies nicht als Abschieben zu definieren.“ Allzu oft setzten pflegende Angehörige das Bedürfnis der Versorgten, in der gewohnten Umgebung bleiben zu können, automatisch vor die eigenen Wünsche. Die Erwartung an sich selbst, eine gute Tochter, ein guter Sohn oder Ehepartner zu sein, erschwere so den Entscheidungsprozess.

Eigene Wünsche zählen auch

Dass sie beruflich zurücksteckt, wo sie doch nach der Familienphase in ihrem Job gerade wieder richtig Fuß gefasst hatte, schafft in Petra Gscheitle einen inneren Zwiespalt, der sie zusätzlich Kraft kostet: „Immer öfter streite ich mit meiner Mutter, meinem Mann oder beiden.“ Spangler rät pflegenden Angehörigen in solchen Situationen, selbst beratende und klärende Hilfe in Anspruch zu nehmen: Warum pflege ich meine Mutter, obwohl es mir eigentlich zu viel ist? Warum stecke ich im Beruf zurück? Beantwortet man sich diese Fragen in der Tiefe, werden oft noch andere Motive für die häuslichen Pflege erkennbar: „Dann geht es um Anerkennung und Zuwendung von Dritten, um Angst vor Kritik und Liebesentzug oder auch die Angst, sich mit einer beruflichen Karriere zu überfordern.“ Mit der bedürfnisgerechten Versorgung der Mutter habe das nicht sehr viel zu tun.

Pflegeheim bringt mehr Qualität in die gemeinsame Zeit

Die Zeit, die mit den alten Eltern bleibt, bekommt eine andere Qualität, wenn die Kinder sich nicht mehr um die Organisation von deren Lebensumfeld kümmern müssen“, sieht Rosemarie Amos-Ziegler von der Filderstädter Wohngemeinschaft für Senioren jeden Tag. Sie rät dazu, ein Heim zu wählen, das man sich vorher genau angeschaut hat: Wird auf die individuellen Bedürfnisse Rücksicht genommen, zum Beispiel die Vorliebe fürs längere Ausschlafen? Gibt es spezielle Angebote, etwa eine Demenzstation? Sie rät zu einem Heim, dass in der Nähe liegt und Besuche bei der Mutter ohne großen Aufwand ermöglicht.

Gespräche suchen, Emotionen offenbaren

Gscheitle nimmt allen Mut zusammen und eröffnet ihrer Mutter: „Ich kann so nicht mehr weiter machen.“ Die Mutter reagiert zunächst betroffen. Sie ist alles andere als begeistert von der Vorstellung, den eigenen Hausstand aufzugeben. Gleichzeitig kann sie die Augen nicht davor verschließen, dass das bestehende Arrangement keine Perspektive hat.

Pflegeheim entlastet beide Parteien

Und wenn sie ehrlich ist, hätte ein Umzug auch für sie entlastende Seiten. Denn sie sieht die Arbeit, die im Haushalt zu tun ist und die sie selbst nicht mehr erledigen kann. Und leidet unter den genervten Reaktionen ihrer überarbeiteten Tochter, wenn sie darum bittet, die Fenster zu putzen, an den Müllabfuhrtermin zu denken oder die Blumen auf dem Balkon zu gießen. Schließlich lenkt die Mutter ein und stimmt der Suche nach einem Pflegeheim zu.

Schlechtes Gewissen ade

„Dass diese Entscheidung getroffen ist, entlastet mich unheimlich, gleichzeitig bin ich ein bisschen traurig mit meiner Mutter wegen der anstehenden Umstellung“, beschreibt Gscheitle ihre Gefühle. Sie weiß, dass die Sucherei nach einem Heimplatz und das Auflösen des Haushalts nochmal Kraft kosten werden. Und dass sie ihre Mutter besonders in der ersten Zeit nach dem Umzug emotional unterstützen muss bei der Eingewöhnung in die neue Lebensumgebung. Trotzdem geht es ihr jetzt besser.