Silversex: Wenn im Speisesaal die Hüllen fallen

Vanessa del Rae ist nach 27 Jahren als Krankenschwester und Leisterin in der Pflege in die Coaching Branche gewechselt. Sex- und Lifecoaching. (Foto: Fizzfoto)

Name: Vanessa del Rae
Alter: 53 Jahre
Ort: Berlin
Beruf: Life- und Sexcoach
Pflegte: 27 Jahre als Krankenschwester, Pflegedienst- und Heimleitung

Frau del Rae, Sie haben 27 Jahre in der Pflege gearbeitet. Warum sind Sie in die Coaching Branche gewechselt?

In der Pflege gibt es viele Hochs und Tiefs. Ich begegnete vielen Menschen, denen es schlecht ging. Sie erzählten mir, dass sie ihr Leben nicht gelebt hatten, wie sie es gewollt hätten. Ihre Bedürfnisse sind nicht gestillt. Das gab mir zu denken. Weil ich Wünsche, Fantasien und das Entdecken des eigenen Körpers unterstützen wollte, absolvierte ich das vierjährige „High Performence Leadershiptraining“ für Coaching, Leitung und Unternehmertum an der Sage University in Berlin, Ibiza und Miami. Auf das Thema Sex kam ich allerdings erst während der Ausbildung.

Reden wir über Sex: Ist das in der heutigen Zeit noch ein Tabuthema?

Im Pflegeheim auf jeden Fall! Das hängt unter anderem mit der Unsicherheit des Pflegepersonals zusammen, wofür sie nichts können. Wie sie mit dem Thema umgehen können, wird in den Einrichtungen selten bis gar nicht vermittelt. So bleibt Sex für alle Beteiligten ein heikles Thema, mit dem schwer umzugehen ist.

Wie kann eine Pflegeeinrichtung der Unsicherheit entgegenwirken?

Pflegeheimleitungen müssen bereit sein, ihre Mitarbeiter zu schulen. Ich helfe dabei. Pflegekräfte müssen mit der Sexualität der älteren Generation professionell und sensibel umgehen. Deshalb erarbeite ich mit ihnen ein Bewusstsein für Sexualität im Alter. Oder beantworte in Seminaren Fragen zum Thema. Offenheit ist DIE Voraussetzung, wenn das Ganze funktionieren soll.

Was genau heißt „sensibel umgehen“?

Stellen sie sich vor: Ein Pfleger macht seinen Rundgang. Das Klopfen an der Tür und Hineingehen sind eine Bewegung. Plötzlich sieht er einen Heimbewohner, der masturbiert oder Sex hat. Eine unangenehme Situation für beide, die sich vermeiden lässt, indem Pflegekräfte nach dem Klopfen einen Moment warten, um die Intimsphäre zu wahren. Schließlich haben Männer und Frauen auch im Alter noch Bedürfnisse, die keineswegs seltsam sind.

Wie verhalte ich mich in der beschriebenen Situation richtig?

Natürlich rausgehen! Hineinzugehen wäre respekt- und taktlos. Das wäre wieder eine Unterdrückung der Sexualität bei den Heimbewohnern. Wenn keine Privatsphäre möglich ist, traut sich niemand mehr, seinen Bedürfnissen nachzugehen: Das ist fatal. Nicht selten werden Bewohner mit ausgeprägten sexuellen Bedürfnissen übergriffig, verbal oder tätlich. Der Klapps auf den Hintern oder ein „Hey Süße“ kommen nach meiner Erfahrung öfter vor, als man annimmt.

Würden sie sagen, dass ein Klapps oder Anmachsprüche schon Aufschluss darüber geben, ob jemand „auf dem Trockenen“ sitzt?

Das sind wenige von vielen Anzeichen. Bei Männern ist das einfacher zu erkennen, ob der Drang nach Sex oder Nähe vorhanden ist. Schlafstörungen, Launen oder Aggressivität kommen häufiger vor als gewöhnlich. Wenn ein Heimbewohner auf einmal nackt oder gar masturbierend im Speisesaal steht, sind die Anzeichen eindeutiger. Frauen zeigen sich zurückhaltender. Eine Frau möchte sich auch im hohen Alter noch begehrenswert fühlen und Komplimente empfangen. Wenn das nicht der Fall ist, hat dies oftmals Depressionen zur Folge.

Wie können Pflegekräfte ihre Klienten unterstützen?

Der Akt an sich steht meist nicht mehr im Vordergrund. Sex ist Kopfsache. Daher können Nähe, Zärtlichkeit und Komplimente ausreichend sein. Wenn Aufmerksamkeiten nicht mehr reichen, können zum Beispiel Pornos, Dildos oder Poster von nackten Frauen helfen. Auch Sexualbegleitung ist im Kommen. Sexuelle Praktiken im Altenheim sind vielfältig.

Für Außenstehende mag das fremd klingen. Wer bezahlt die Hilfsmittel oder organisiert die Sexualbegleitung?

Das ist ein Thema, worüber sich wenige bisher Gedanken machen. Die Bezahlung gestaltet sich schwierig. Da die Heimbewohner oft keine verfügbaren Gelder besitzen, bleiben die Kosten in der Regel bei den Angehörigen oder Betreuern. Selten ist der Fall, dass Pflegeheime die Kosten für Sexspielzeuge oder Sexualbegleiterinnen übernehmen.

Weshalb übernehmen Pflegeheime die Kosten für Sexualbegleiterinnen oder Spielzeuge?

Immer wieder kommt es zu Übergriffen von Bewohnern auf Pflegekräfte. An der Stelle sei angemerkt, dass diese Übergriffe nicht bösartig sind, sondern Ausdruck eines Bedürfnisses. Sei es durch plumpe oder auch charmante Sprüche oder Tatschen. Demenzerkrankte verstehen nicht, wieso Pfleger ihren Intimbereich berühren und sie sich nicht revanchieren dürfen. Mittlerweile existieren Sexualbegleit-Agenturen wie Nessita, die auf das hohe Alter spezialisiert sind. Sexualbegleiter wissen, wie mit Bewohnern umzugehen ist. Durch die Dienstleistung sorgt das Pflegeheim für den Schutz der Mitarbeiter. Außerdem sind Bewohner ausgeglichener und weniger Medikamente kommen zum Einsatz. Eine Win-Win- Situation.

Neben Nähe und Zärtlichkeit: Sind Swingen oder Sadomaso in Seniorenheimen ein Thema?

Gibt es, aber selten. Ein Fallbeispiel: Ein Demenzerkrankter hat sich immer wieder eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt und drohte dabei zu ersticken. Die Pfleger sorgten sich, bis sie merkten: Der Bewohner hatte eine Vorliebe für SM. Sie tauschten die Plastiktüte gegen einen Jutebeutel.  Andere Bewohner genießen Stuhlpsychosen aufgrund der analen Stimulation. Letzteres gehört nicht zum SM, dennoch gibt es solche Vorlieben. Und Pflegende sollten die Zeichen erkennen.

Wie sieht es generell mit Beziehungen im Alter aus?

Senioren können ihr Sexualleben genießen, verlieben sich, gehen Beziehungen ein oder heiraten. Hinter den Türen einer Seniorenwohnanlage ist zum Glück heutzutage alles möglich. Und legitim.

 

Vanessa del Rae gibt Seminare und Workshops- hier beim DRK Görlitz (Foto: DRK Görlitz)

Vanessa del Rae ist Life- und Sexcoach, Buchautorin, Bloggerin, veranstaltet Workshops und Seminare. Verschiedene Lebenssituationen und unbefriedigte Bedürfnisse können zermürbend sein. Nach Jahrelanger Erfahrung hat del Rae sich genau diesen Situationen gewidmet und klärt auf. Wie sehr das Thema beschäftigt, macht der Blog auf ihrer Homepage klar.  Wer den Blog lesen oder sie live erleben möchte, findet in ihrer „Sensuality School“ die Blogeinträge und alle Infos zu Veranstaltungen.

 

 



Hendrik Stüwe (Jahrgang 1991) Ist Pflegebibel Redakteur, gelernter Industriekaufmann, Fotograf und Journalist. Gesundheits- und Management-Themen sowie aktuelle Ereignisse aus der Pflege sind seine Spezialgebiete. Damit ist der ehemalige Fitnesscoach auch in anerkannten Arzt-, Physio- und Fitness-Magazinen unterwegs.

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