Pflege trifft Geschichte: Die Enkel des Hauptmanns

Die Geschichte des „Hauptmanns von Köpenick“

Der Huptmann von Köpenick
Bild: pixabay.com

Die ältesten Menschen, die wir heute in Pflegeeinrichtungen noch erleben können, würde ich als „Enkel des Hauptmanns von Köpenick“ bezeichnen. Die Geschichte des „Hauptmanns“ Wilhelm Voigt symbolisiert zwei noch heute wichtige Dinge: Die Macht der Uniform und die Schrecken des Kommandotons.

Die Welt im Wandel

Was die Eltern und Großeltern unserer alten Menschen prägte, war die Welt nach der Industrialisierung. Sie wandelte sich so rasant wie niemals zuvor. Traditionelle Strukturen waren plötzlich erloschen, die Großfamilie nicht mehr die einzige gültige Lebensform. Statt in bäuerlichen Dorfstrukturen lebten viele nun in riesigen Wohnsilos in der Stadt. Die Welt war unüberschaubar geworden. Früher hing die Existenz der Menschen von Dingen ab, die zwar oft bedrohlich, aber immer erkennbar und durchschaubar waren. Etwa, ob ein Hagelschlag die Felder des eigenen Dorfes oder jene des Nachbarortes traf. Nun war man innerhalb kurzer Zeit von abstrakteren Dingen abhängig geworden: Börsenkurse, Außenhandelsbeziehungen, die Lage in Kolonien und ähnliches.

Der erste Weltkrieg

Trotzdem hätte der Fortschritt ein glückliches Leben ermöglichen können. Man denke nur an die Entwicklungen in Medizin und Hygiene. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland stieg, die Bevölkerung wuchs von 49,2 Millionen im Jahr 1890 auf 64,9 Millionen im Jahr 1910. Allerdings scheint es heute, als habe der geistige Fortschritt nicht mitgehalten. Die philosophische, psychologische und politische Entwicklung hielt der technischen nicht stand. Die Menschen verfielen in eine Art Massendepression, verschanzten sich hinter einem falschen „Wir-Gefühl“ und zogen 1914 lachend und feiernd in den Ersten Weltkrieg.

Der Trick des Wilhelm Voigt

Nun aber zurück zum Hauptmann von Köpenick: Der arbeits- und wohnsitzlose Schuster Wilhelm Voigt plante im Jahr 1906 den ganz großen Coup. Er erstand bei einem Trödler eine Hauptmannsuniform, fuhr damit quer durch Berlin und kommandierte eine Gruppe Soldaten ab, die ihm begegnete. Die acht Männer gehorchten ihm. Er ließ sie das Rathaus von Köpenick besetzen, nahm den Bürgermeister fest, konfiszierte den Inhalt der Stadtkasse und schickte seine Gefangenen mit der Droschke nach Berlin auf die Polizeiwache. Voigt wurde bald gefasst, aber nach dem Gefängnis wurde er zum beliebten Showstar und Vortragsredner. Zu schön hatte er den Militarismus seiner Zeit bloßgestellt. Das Wunderbare: Voigts Trick funktionierte, obwohl man ihn kinderleicht durchschauen konnte. Seine Uniform war schmuddelig und falsch zusammengesetzt, er selbst sah wie ein Tippelbruder aus und war viel zu alt für einen Hauptmann. Soldaten, Zivilisten und der Bürgermeister, ein Reserveoffizier, sahen nur die Uniform, nicht den Menschen. Alle standen sie sofort stramm.

Der Ton macht die Musik

Wir Pflegenden können aus dieser Geschichte heute noch etwas lernen. Wir tragen Dienstkleidung, die uniform wirken kann. Gleichsam erscheinen uns alte und kranke Menschen durch Äußerlichkeiten, wie etwa graue Haare und tiefe Falten uniform. Die eine Lehre lautet deshalb: Sieh nie die Uniform, sieh immer den Menschen. Die andere betrifft den Kommandoton. Heutige Heimbewohner sind, wie eingangs erwähnt, die „Enkel des Hauptmannes von Köpenick“. Soldatischer Kommandoton war über Generationen angesagt in unserem Lande und ist für diese Menschen eine Art Massentrauma. Mit „klaren Ansagen“ pflegebedürftige, alte Menschen beeinflussen zu wollen ist deshalb sinnlos und würdelos. Dies gilt nicht nur, aber im Besonderen bei Demenzkranken. Zwei Reaktionen sind möglich: Abkapselung oder Angst und Wut. Milde im Umgangston ist für sie dagegen ein schönes Erlebnis, das Wunder wirken kann.

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Marco Heinz (Jahrgang 1968) schloss 1994 seine Ausbildung zum Altenpfleger ab und ist seither im Beruf tätig. 2007 absolvierte er eine Weiterbildung zur Gerontopsychiatrischen Fachkraft. Das Thema seiner Facharbeit lautete. "Puppen und Plüschtiere als Trost und Brücke zur Vergangenheit". Seit 2009 ist er in der Demenzabteilung eines Pflegeheims im Raum Stuttgart tätig. In all den Jahren ist ihm immer der Mensch in seinem Gegenüber wichtig geblieben. Biographiearbeit ist für ihn die Grundlage adäquater Pflege und Betreuung von Demenzkranken. Das Wissen und Erleben der Generationen, die heute in Heimen und von mobilen Diensten gepflegt werden, sieht er als unverzichtbaren Rohstoff, mit dem wir leider sehr verschwenderisch umgehen. In seiner Freizeit ist Marco Heinz begeisterter Fernwanderer und beschäftigt sich mit Literatur- Philosophie und Geschichte.